Vorträge und Texte
Die neue Weltunordnung, Mai 2015 (scroll here)
I.
Wir erleben derzeit den dramatischsten geopolitischen, geostrategischen und geoökonomischen Wandel seit einem halben Jahrtausend. Genau genommen ist es die dritte historische Machtverschiebung der neueren Geschichte.
Die erste war der Aufstieg Europas. Er begann um das Jahr 1500 und schuf die Welt, in der wir alle aufgewachsen sind – die Welt der Aufklärung, der Wissenschaft und der Technologie, des Kommerzes und des Kapitalismus, der industriellen und landwirtschaftlichen Revolutionen. Bis vor fünfzig Jahren war es allerdings auch die Welt des Kolonialismus, kein sehr ehrenvolles Kapitel unserer Geschichte.
Die zweite Machtverschiebung setzte Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein, als die Vereinigten Staaten auf die Weltbühne traten, die sie dann hundert Jahre lang beherrschten – politisch, ökonomisch und militärisch wurden sie die Vormacht in Europa wie im asiatisch-pazifischen Raum.
Heute sind wir Zeugen der dritten historischen Wandlung: einer gewaltigen Verschiebung von Macht und Wohlstand aus dem Westen zu den aufstrebenden Ländern der übrigen Welt. Wo Europa während seines 75jährigen Bürgerkrieges – zwei „heißen“ Kriegen, dann dem Kalten Krieg – in den Jahren 1914-1989 das Zentrum der Weltgeschichte war, verschiebt sich deren Brennpunkt heute vor unseren Augen. Der Westen hat noch immer Gewicht, doch ist er nicht mehr übermächtig. Hinter den beiden Milliardenvölkern China und Indien drängen auch die „next eleven“ nach vorn und nach oben. Fünfhundert Jahre westlicher Vorherrschaft gehen zu Ende. Die Welt wird immer weniger dem weißen Mann gehören.
II.
Zwei langfristige Trends kommen zu dieser kontinentalen Machtverschiebung hinzu.
Der erste ergibt sich aus der zunehmenden physischen und informations-technischen Verknüpfung der Welt. Die Globalisierung und die gleichzeitig damit einhergehende Vernetzung durch Computer und Internet haben eine präzedenzlose Konnektivität entstehen lassen. Vor hundertfünfzig Jahren brauchte es noch Wochen oder gar Monate, bis uns Nachrichten aus entlegenen Weltgegenden erreichten. Heute erfahren wir in real time, dass eine siebenjährige Attentäterin im Dienste der Boko Haram de Markt in einer nigerianischen Kleinstadt in die Luft gesprengt hat. Erregung bleibt nicht länger lokalisiert, ein jedes Ereignis verlangt unsere Reaktion, das Geschehen überwältigt uns.
Ein weiterer Trend ergibt sich aus dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Staaten und der internationalen Organisationen. Die Zahl der souveränen Staaten hat sich dramatisch erhöht hat: 1914 waren es 59, selbst 1945 erst 76, heute sind es rund 200. Aber als Bausteine der Weltordnung haben sie eine enorme Schwächung erfahren. Die souveräne Handlungsfreiheit der Nationen bezog sich früher auf ihr Territorium, ihr Wirtschaftsleben und ihre Umwelt. Inzwischen haben sie die Hoheit über ihr Wirtschaftsleben verloren; die Geschäftswelt ist staatenlos, ja vaterlandslos geworden. Aber auch die Umweltpolitik entzieht sich heute der rein nationalen Gestaltung; der saure Regen kennt keine Grenzen, und der Klimawandel ist durch rein nationale Politik nicht aufzuhalten.
Wohl spielen die Staaten noch eine Rolle, aber es ist nicht länger unbedingt die ausschlaggebende und in den meisten Fällen auch nicht mehr die alleinige Rolle. Die nicht-staatlichen Akteure gewinnen an Einfluss – konstruktive NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch oder Médecins Sans Frontières; destruktive wie Al-Qaida oder ISIS. Terroristen verschiedenster Observanz, international operierende Mafias und militante Kräfte treiben in fünf Kontinenten ihr Unwesen. Allenthalben sprießen bewaffnete Verbände aus dem Boden. In Syrien, im Irak und im Jemen, im Sudan und in Libyen verlängern sie die schwelenden internen Konflikte und erschweren oder vereiteln überfällige Friedensschlüsse. Dies hat zu einem beispiellosen Umsichgreifen schlimmster Grausamkeiten geführt. Die grenzüberscheitenden Gewalttaten verschiedenster Terrormilizen haben laut Amnesty International im vergangenen Jahr 35 Staaten erschüttert.
Der Dschihad , der Heilige Krieg fundamentalistischer Islamisten, ist längst auch in Europa angekommen. Der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo war nicht der erste Anschlag, denken sie bloß an Madrid, London oder an das misslungene Attentat in Köln; und sicher war es auch nicht der letzte Anschlag: von den hier bei uns aufgewachsenen Dschihadisten geht dabei eine wachsende Gefahr aus.
II.
Vor einem Vierteljahrhundert, als der Ost-West-Konflikts zu Ende ging, haben uns drei amerikanische Autoren drei verschiedene Zukunftsszenarien vor Augen gestellt: der Polit-Philosoph Francis Fukuyama, der Harvard-Politologe Samuel Huntington und der Weltreisende Journalist Robert Kaplan.
Fukuyama rief 1989 das „Ende der Geschichte“ aus und zugleich die unumkehrbare Dauerhaftigkeit des erreichten Zielstadiums „Liberalismus“, worunter er den Sieg der Demokratie und des freien Marktes verstand; vor uns lägen „Jahrhunderte der Langeweile“, behauptete er. Selten ist eine These von der Wirklichkeit so schnöde dementiert und demontiert worden. Die Geschichte ist weitergegangen, wie sie immer weiter gehen wird, solange es die Menschheit gibt. In seinem neuen Buch „Political Order and Political Decay“ räumt Fukuyama ein, dass die Dinge komplizierter sind, als er sich vorgestellt hatte. China hat ein Alternativ-Modell etabliert, das die Vorzüge der Marktwirtschaft mit der harten Hand der Diktatur kombiniert. Die Demokratisierung aber ist im ganzen Mittleren Osten gescheitert und ist auch in Putins Russland auf dem Rückzug.
Das zweite Drehbuch der Zukunft veröffentlichte der inzwischen verstorbene Professor Huntington im Sommer 1993 in seinem Aufsatz „The Clash of Civilizations?“ Kurz und bündig verkündete er: „Der Zusammenprall der Kulturen wird die Weltpolitik beherrschen. Die Verwerfungslinien zwischen den Zivilisationen werden die Kampf-Fronten der Zukunft sein.“ Die künftigen Kriege würden sich zwischen dem Westen und den nicht-westlichen Kulturkreisen abspielen, zumal zwischen dem Westen und dem Islam, aber auch China. Huntingtons These ist seinerzeit heftig umstritten worden. In ihrer Pauschalität ist sie wohl auch heute nicht zutreffend. Aber seit den Anschlägen des 11. September und erst recht neuerdings seit der Ausrufung des Islamischen Staates zum „Kalifat“ stellt sich in der Tat die Frage, ob Al-Qaida oder IS die Vorhut eines radikal-fundamentalistisch und terroristisch eingefärbten Islams in einem muslimischen Zivilisationskrieg gegen den Westen werden könnten. Ebenso gibt ein zunehmend chauvinistischer Trend in China Anlass zu der Sorge, das aufstrebende Reich der Mitte könne von einer Status-quo-Macht zu einer expansionistischen Macht werden.
Das dritte Drehbuch entwarf Robert Kaplan Anfang 1994 in seinem Aufsatz „The Coming Anarchy“. Er sagte voraus, dass die Welt vor einer heillosen Periode steht, gekennzeichnet von Kämpfen um Wasser, Nahrung, saubere Luft; von Konflikten um Rohstoffe; von innerstaatlichen Unruhen und Stammeskriegen; von der Chaotik zerfallender, in die Anarchie abstürzender Staaten. Angesichts der Berichte aus dem Kongo, aus Zimbabwe, Nigeria, dem Sudan oder Zentralafrika besteht leider kein Zweifel, dass Kaplan mit seiner Analyse ein Stück Wirklichkeit zutreffend beschreibt.
Wahrscheinlich hatte keiner der drei Autoren ganz Recht und keiner ganz Unrecht. Wir haben von allem etwas erlebt: von Demokratisierung, Befreiung und Befriedung – siehe Osteuropa – ebenso wie vom Kampf der Kulturen und von den Beben, die in fallierenden oder zerfallenden Staaten ihren Ausgang nehmen. Es steht zu befürchten, dass es in dieser Mischung weitergehen wird.
III.
Im Pentagon ist neuerdings ein neues Buchstabenkürzel im Schwange, um den Zustand der gegenwärtigen Welt zu beschreiben. Wir leben in einer VUCA-Welt, sagen die Washingtoner Strategen: V für volatile, also schwankungsanfällig, U für uncertain, C für complex und A für ambivalent. Es ist eine Welt, in der vieles durcheinander geht. Wir erleben gleichzeitig beides: Globalisierung und Fragmentierung, Abbau der Grenzen und Aufbau neuer Mauern und Zäune, ökonomisches Zusammenwachsen und politisches Auseinandertriften, Schwüre der Friedlichkeit und Zunahme militärischer Konflikte. Zu allem Übel kommt hinzu, dass die internationalen Institutionen und Prozesse alle nicht mehr zuverlässig funktionieren. Das gilt gleichermaßen für die Vereinten Nationen, die Doha-Runde zur Regulierung des Welthandels, die Wirtschaftsgipfel der G-7, G-8, G-20, die Weltklimakonferenzen und viele andere. Mit der Krisen-Kaskade, die über uns hereingebrochen ist, werden sie nicht fertig.
Auf diese VUCA-Welt möchte ich jetzt den Blick richten. Was ist die Signatur der im Entstehen begriffenen neuen Weltordnung? Lassen Sie mich in zehn Thesen die zehn heute erkennbaren Trends beschreiben.
1. Während des Kalten Krieges war die Welt vierzig Jahre lang zweigeteilt. Die Bipolarität, in der sich alles um die beiden Pole Washington und Moskau drehte, ging 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion abrupt zu Ende. Es folgte eine kurze Epoche der Unipolarität, zehn oder fünfzehn Jahre, in denen die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht weltweite Dominanz genossen. Doch auch diese unipolare Weltordnung ist in der Bruchzone der Gegenwart versunken. Heute leben wir in einer Welt ohne dominierenden Pol, einer „nonpolaren Welt“, wie Außenminister Steinmeier sagt; „no one’s world“ in den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Charles Kupchan (der seit kurzem im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses für Europa verantwortlich ist). Eine neue Weltordnung ist im Entstehen begriffen. Zunächst einmal jedoch stecken wir in der Durchgangsphase einer neuen Welt-Unordnung – einer Phase, die Jahrzehnte dauernd mag, ehe sich ein neues, multipolares Mächtemuster festigt.
Am Ende – sagen wir: in dreißig bis fünfzig Jahren – wird wohl ein Konzert der Mächte herauskommen, das dem europäischen des 19. Jahrhunderts ähnelt: fünf oder sechs Mächte, die nach dem Prinzip der balance of power versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, aber dabei den Frieden zu bewahren. Die USA werden dazu gehören; China auch und bis dahin Indien, das andere Milliardenvolk; Europa, wenn es sich bis dahin nicht wieder leichtfertig auseinanderdividiert; sicherlich auch Russland, von dem ich denke, dass es, um nicht zu einem bloßen Anhängsel Chinas zu werden, spätestens nach Putin in aller souveränen Selbständigkeit wieder die Nähe Europas suchen wird. Ob Mittelmächte wie Japan, Brasilien, womöglich Nigeria und Südafrika, der Iran, die Türkei oder Indonesien Einflussgrößen werden können, wird von der Staatskunst ihrer Führer, vom Grad ihrer inneren Stabilität und letztlich auch von der gesellschaftsverträglichen Lösung ihrer sozialen Probleme abhängen. Sicher scheint nur, dass keine der künftigen Großmächte wieder ein Welthegemon werden kann.
2. Washingtons unipolarer Moment ist vorüber. In Abu Ghraib, Guantanamo und den europäischen Folterzentren der CIA haben die Vereinigten Staaten ihren moralischen Lauterkeitsanspruchs eingebüßt; mit George W. Bushs herbeigelogenem Irak-Krieg verloren sie ihre außenpolitische Verlässlichkeit; durch zwei im Laufe eines einzigen Jahrzehnts in Amerika ausgelöste Wirtschafts-und Finanzkrisen haben sie auch ihre ökonomische Leit- und Vorbildrolle verspielt. Zudem geht von ihrem politischen System, das polarisiert und paralysiert ist bis zur Handlungsunfähigkeit, derzeit keine große Zugkraft mehr aus.
Nation-building at home hat Präsident Obama nicht von ungefähr zu seiner Leitlinie gemacht. Fürs erste wird sie das wohl auch bleiben. Zwar wächst angesichts der jüngsten Krisen der Druck der Hardliner auf Obama, sich wieder massiver einzumischen. Wie der Präsident, so ist indes auch die amerikanische Öffentlichkeit sehr zögerlich, sich auf neue militärische Auslandsabenteuer einzulassen; dazu ist die Erinnerung an die kostspieligen, opferreichen und letztlich erfolglosen Interventionen im Irak, in Afghanistan und Pakistan, in Libyen und im Jemen doch zu abschreckend. Abgesehen davon, würde auch ein aktiverer Präsident, der Obama in zwei Jahren ablöste, feststellen müssen, dass die USA zwar in den meisten Weltregionen Grundpfeiler und Schlussstein der Sicherheitsarchitektur bleiben, dass aber ihre Fähigkeit, die Weltordnung im Alleingang zu bestimmen, für immer dahin ist. Amerika wird noch jahrzehntelang präeminent bleiben, aber es wird nicht mehr prädominant sein.
3. Wo die USA nicht länger auf dem Gipfel ihrer Macht sind, hat die EU ihren Zenit noch nicht erreicht – und, machen wir uns nichts vor, bis dahin mag es noch eine oder zwei Generationen dauern. Aber wir sollten Europa auch nicht kleiner machen, als es ist. In der EU leben 200 Millionen Menschen mehr als in den Vereinigten Staaten. Ohne jeden Zweifel ist die Europäische Union ein wirtschaftlicher Gigant. Ihr Bruttoinlandsprodukt ist größer als das Amerikas (EU: $17,2 Mrd. , USA: $16,7 Mrd.) fast doppelt so groß wie das Chinas ($8,9 Mrd.), zehnmal so groß wie das Indiens ($ 1,75, achtmal so groß wie das Brasiliens ($ 2,19). Das Prokopfeinkommen ist niedriger als in USA ($53.000 : $32.000), doch fast zweieinhalb höher als in Russland und fünfmal höher als in China. Europäer leben im Schnitt drei Jahre länger als Amerikaner, sieben Jahre länger als Chinesen und zwölf Jahre länger als Russen (82,4; 78,6; 74,8; 69,8).
Doch steckt der europäische Gigant seit fünf Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise. Außerdem ist er sich seiner finalité, seines Ziels und seiner Bestimmung nicht mehr gewiss. Soll die EU nur eine bessere Freihandelszone sein, wie sich die Briten dies vorstellen? Oder soll sie doch zu einer „immer engeren Union der Völker“ werden, wie es in der Präambel des Maastricht- Vertrags heißt? Welche geopolitischen Interessen hat sie, welche militärischen Fähigkeiten braucht sie? Wo liegen ihre Grenzen?
Derzeit ist die Union wieder einmal fast ausschließlich mit ihren inneren Problemen beschäftigt – voll darauf konzentriert, den Euro zu retten; die Schuldenstaaten an ihrer südlichen Peripherie zu stabilisieren, Griechenland in erster Linie, und daneben die Finanzindustrie strengeren Regeln zu unterwerfen, das Migrationsproblem anzugehen und Normen für die Einhegung des Klimawandels zu entwerfen. Das Erstarken rechter und linker Anti-EU-Parteien und zunehmende Renationalisierungstendenzen erhöhen den Druck von innen, während Putins expansiver Revisionismus einen seit 25 Jahren überwunden geglaubten Druck von außen wiederaufleben lässt.
Ich denke, dass wir die gegenwärtige Krise überwinden werden wie schon so viele Krisen vorher. Doch bedarf es dazu einer entschlossenen Anstrengung. Wir müssen jetzt entschlossen einige große Schritte nach vorn tun: in Richtung auf eine Wirtschaftsunion, Sozialunion, Energie-Union – und endlich auch zu einer verteidigungs- und sicherheitspolitischen Union , Ja: tendenziell hin zur europäischen Armee. In der Krise liegt die Chance der Erneuerung: die Chance in einer dritten Gründungsphase nach den Römischen Verträgen von 1957 und den Erweiterungsrunden in den letzten zwanzig Jahren. Wie man auf Englisch sagt: Never waste a crisis.
Indessen bin ich da guter Hoffnung. Europa versteht man am ehesten, wenn man es mit dem Liebesleben der Elefanten vergleicht: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab; es wird viel Staub aufgewirbelt, und man muss Jahre auf das Ergebnis warten. Auf diese Weise haben wir es jedoch seit 1950 schon sehr weit gebracht. Wohl sind wir noch zwei oder drei Generationen entfernt von den Vereinigten Staaten von Europa, das Vereinigte Europa der Staaten jedoch ist heute nicht nur ein Traumziel, sondern eine überlebenswichtige Notwendigkeit.
4. Von entscheidender Bedeutung erscheint mir hier ein vierter Trend: die bereits heute absehbare demographische Entwicklung und deren geopolitischen Konsequenzen. Der demographische Wandel vollzieht sich in den alten Industrienationen schneller als in den Entwicklungsländern. In diesen leben heute acht von zehn Erdenbürgern; in zwanzig Jahren werden es neun von zehn sein: 7,2 von 8 Milliarden Menschen im Jahre 2025, davon allein 4,7 Milliarden in Asien und 1,3 Milliarden in Afrika. Der Anteil der Weißen an der Weltbevölkerung geht drastisch zurück.
Im Jahre 1900 machten die Europäer – im weitesten geographischen Sinn – 20 Prozent der Menschheit aus, ein stolzes Fünftel. Inzwischen ist ihr Anteil auf gerade noch 11 Prozent gesunken. Und er wird weiter fallen: auf knapp 7 Prozent zur Mitte des 21. Jahrhunderts und ganze 4 Prozent bis zu seinem Ende. Dann werden 500 Millionen Europäer und ebenso viele Nordamerikaner 8 Milliarden Menschen im Rest der Welt gegenüberstehen. Und es wird nicht einen einzigen europäischen Staat geben, der auch nur 1 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht.
Unverkennbar wird Europa zahlenmäßig an den Rand gedrängt. Es wird all seinen Genius, sein Integrationsvermögen und seinen Überlebenswillen aufbieten müssen, wenn es sich in der heraufdämmernden Welt von morgen behaupten will. Der demographische Faktor nagt nicht nur an unserer Rentenformel, er schwächt unsere Weltstellung. Was uns an Masse abgeht, werden wir künftig durch Artgewicht, Dynamik und Einfallsreichtum ersetzen müssen. Ich für mein Teil ziehe aus der demographischen Entwicklung auch den zwingenden Schluss, dass wir eine Renationalisierung oder gar das Auseinanderfallen der Europäischen Union unter keinen Umständen zulassen dürfen – wenn wir nicht zusammenhängen, werden wir einzeln gehängt werden. Auch sollten wir nichts unversucht lassen, um den transatlantischen Zusammenhalt zu bewahren und wieder zu festigen.
5. Ein fünfter Trend wird sich verstärken: die Verlagerung von Macht und Wohlstand nach Asien. Wie es heute aussieht, wird die Wirtschaftsleistung Asiens im Jahre 2030 die Amerikas und Europas zusammengenommen übersteigen. Dies liegt in erster Linie an China, das in den Lebensspanne einer einzigen Generation einen in der gesamten Weltgeschichte beispiellosen Auf- stieg genommen hat. Seit 1978, dem Beginn von Deng Xiaopings Reformen, stieg das Bruttosozialprodukt von 45 Milliarden auf 9.400 Milliarden Dollar, das Prokopfeinkommen von 76 auf 6.900, das Außenhandelsvolumen von 44 Millirden auf 4.100 Milliarden Dollar, Chinas Devisenschatz von nahezu Null auf über 4000 Milliarden, sein Anteil am Welthandel von einem auf über 12 Prozent. Schon heute ist es wieder, was es bis 1820, 1830 war: die größte Volkswirtschaft der Erde, wenngleich das Prokopfeinkommen noch auf Jahrzehnte hinaus das westliche Niveau heranreichen wird. In großem Abstand ist ihm Indien, das andere Milliardenvolk, auf den Fersen, doch auch die übrigen Völker Asiens sind auf dem Weg in die Modernität.
Das wachsende wirtschaftliche Gewicht der beiden asiatischen Milliardenvölker China und Indien wird auch deren geopolitischen Einfluss vergrößern – und dies ungeachtet der riesigen sozialen Probleme, mit denen sie beide zu kämpfen haben – der Kluft zwischen Arm und Reich, der gravierenden Umweltprobleme, der Probleme einer überalternden Gesellschaft in China und einer Bevölkerung, die zur Hälfte unter 25 Jahren alt ist in Indien; ungeachtet auch der Nachteile einer Diktatur China und der Unvollkommenheiten der Demokratie in der Indischen Union. Zunehmend treten sie mittlerweile als globale Investoren in Erscheinung, die sich in Industrieunternehmen oder Banken der OECD-Länder einkaufen, und im übrigen als weltweit agierende Konkurrenten um Rohstoffe wie als industrielle Wettbewerber, die nicht länger bloß T-Shirts und Turnschuhe herstellen, sondern Automobile, Flugzeuge, Weltraumraketen. Immer beharrlicher werden sie eine Reform jener weithin exklusiv westlichen internationalen Institutionen fordern, die 1944/45 gegründet wurden: die Vereinten Nationen und die beiden Bretton Woods-Institutionen, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Sie fordern ihren Platz an der Sonne.
6. Ein sechster Trend ist nicht zu übersehen: die wachsende Friedlosigkeit in der Welt. Die Vereinten Nationen wurden 1945 mit dem Ziel gegründet, die „Geißel des Krieges“ ein für allemal auszurotten. Seitdem haben wir jedoch nach einer glaubhaften Zählung 328 Kriege und Bürgerkriege erlebt, die meisten davon in der Dritten Welt. Dabei sind Konflikte zwischen Staaten seltener geworden; die jugoslawischen Auflösungskrieg und der Georgienkrieg bilden eher eine Ausnahme. Die überwiegende Kriegsform unserer Zeit sind innerstaatliche Auseinandersetzungen, wie sie in jüngster Zeit 30-plus Staaten erschüttert haben, darunter Irak, Syrien, Israel, Kolumbien, Mexiko, Nigeria, Mali, Pakistan, Somalia.
In Europa ist es heute gänzlich unvorstellbar, dass die 28 Mitgliedstaaten der EU je wieder die Waffen gegeneinander erheben – und ich denke, dass sich auch in der Ukraine-Krise alle davor hüten werden, es zu einem regelrechten Krieg kommen zu lassen. Putin betreibt eine auftrumpfende Großmachtpolitik, doch einen bewaffneten Konflikt mit dem Westen kann auch er nicht wollen. Er versucht seine Ziele mit Mitteln zu erreichen, die unterhalb der Eskalationsschwelle in Richtung konventioneller oder gar atomarer Kriegführung liegen.
Nicht zuletzt seiner Taktik und Strategie wegen, doch auch in den levantinischen Turbulenzen hat sich das Erscheinungsbild des Krieges verändert. Wir reden wir heute vom „hybriden“ Krieg – einer Art des Krieges, in der klassische Militäroperationen begleitet oder überformt werden vom Partisanenkampf, von Propagandakampagnen, von Cyberangriffen, Drohnen-Einsätzen zur gezielten Tötung gegnerischer Führungspersonen und von gesellschaftlicher Destabilisierung. In dieser neuen Gestalt des Krieges sind Siege rar geworden – meist schwären die Konflikte fort. Dies aber stellt den Sinn der westlichen Militärinterventionen in Irak, in Afghanistan, in Libyen oder der Sahelzone grundsätzlich in Frage. Das strategische Umfeld ist so unberechenbar geworden, dass die Folgen eigenen Handelns kaum mehr abzusehen sind. Dessen muss sich die Bundesregierung bewusst bleiben, wenn sie jetzt immer wieder ihre Bereitschaft unterstreicht, größere weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Umsicht und militärische Zurückhaltung bleiben auf jeden Fall geboten.
7. Russland
Damit bin ich nun bei dem Thema, das uns seit einem Jahr in Atem hält: der Ukraine-Krise. Sie fand ihren ersten Höhepunkt in der Annexion der Krim durch Russland und mündete dann in einen regelrechten Bürgerkrieg zwischen Kiew und den selbsterklärten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Dieser Krieg hat mittlerweile im Osten des Landes über 6000 Menschen das Leben gekostet und enorme Zerstörungen angerichtet. Vor allem hat er die Frage aufgeworfen, ob der Kremlherrscher Russland und den Westen mit seiner Politik in einen neuen Kalten Krieg stürzt. Was will er wirklich? Was wird er als nächstes unternehmen? Wann und wo wird er haltmachen nach der Übernahme der Krim und der massiven Einmischung im Donbass?
Die Antworten auf diese Fragen gehen so weit auseinander wie die Meinungen über die Ursache der Krise. Die Putinologen sind sich darüber so wenig einig wie während des Kalten Krieges die Kreml-Astrologen über die Ansichten und Absichten der sowjetischen Führung. Die einen halten Putin für einen ruchlosen Aggressor, die anderen für eine verletzte Seele, während eine dritte Gruppe meint, er sei weniger auf territoriale Erweiterung aus als vielmehr auf die ideologische Abschottung Russlands von den verderblichen Einflüssen der dekadenten westlichen Kultur.
Den ruchlosen Aggressor sieht in Putin vor allem Michael Eltchaninoff in seinem Buch Dans la tête de Vladimir Poutine. Getrieben von der nostalgischen Sehnsucht nach dem alten Russland stelle sich der Kremlherrscher in die Zarenreihe der „Sammler russischer Erde“. Die Auflösung der Sowjetunion sei für ihn nicht bloß eine geopolitische Katastrophe gewesen; er habe sie auch als menschliches Drama empfunden, da sie 25 Millionen Russen oder Russischsprachler außerhalb der neuen Landesgrenzen lassen. Ihnen gegenüber fühle er sich als Schutzherr; da scheue er, machtbesessen und zu jedem Risiko bereit, auch vor „Imperialismus à la carte“ nicht zurück. „Gestern die Krim, heute der Osten der Ukraine, und was kommt morgen?“, schrieb die FAZ. „Europa hat von Putin noch einiges zu erwarten. Was, das ahnen vor allem die Polen und die Balten.“
In ihren offiziellen Äußerungen stützt auch die NATO diese Lesart: Was die Ukraine durchmacht, drohe auch den osteuropäischen Bündnisstaaten, erklärte der stellvertretende Oberkommandierende, der General Adrian Bradshaw in London; Russland stelle also eine existenzielle Gefahr dar.
Putin, die verletzte Seele. Diese Ansicht vertreten zum Beispiel die britische Putin-Biographin Fiona Hill die frühere Moskau-Fernsehkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz oder die französische Russlandexpertin Hélène Carrère d'Encausse. Putin habe ein gleichwertiger Partner des Westens sein wollen, auch in der NATO, sei jedoch rüde zurückgestoßen worden – von George W. Bush durch dessen Raketenabwehrpläne und die scheibchenweisen Erweiterung nach Osten – 2004 Tschechien und die Slowakei, Ungarn und Polen, dazu Litauen, Lettland und Estland; schließlich 2007 Bulgarien und Rumänien. Vollends aufgebracht habe ihn dann der Versuch, die Ukraine und Georgien in die westliche Allianz einzubeziehen; schon die georgische Rosen-Revolution 2003 und die ukrainische Orange-Revolution 2004 habe er als bedrohliche CIA-Projekte empfunden. Auch habe es seinen Stolz verletzt, dass Bushs Nachfolger Obama nicht auf Augenhöhe mit ihm verkehren wollte. Tatsächlich bezeichnete der US-Präsident Russland – ein Land, das sich über elf Zeitzonen erstreckt – abfällig als „Regionalmacht“, obwohl die Lösung schwieriger weltpolitischer Probleme wie Iran, Syrien, Nordkorea und Rüstungskontrolle ohne Moskau undenkbar ist. Persönlich verletzend muss Putin dann auch Obamas hämische Bemerkung empfunden haben, er benehme sich „wie ein Lümmel, der sich in der hintersten Schulbank der Klasse herumfläzt“.
Auch von Europa, in dem er sich noch Anfang der Nuller-Jahre verankern wollte, hat sich der Kremlherr inzwischen abgewendet; er betrachtet es, überall Verschwörung witternd, nur noch als verlängerten Arm der CIA.
Dabei sind sich die westlichen Experten uneins, ob Putin wirklich plant, die postkommunistischen Grenzen in Europa gewaltsam zu verändern. Viele bezweifeln es. Einige glauben, er habe seit Langem vorgehabt, die Krim in einer gewaltsamen Heim-ins-Reich-Aktion wieder an Russland anzuschließen und sich danach der Ostukraine zu bemächtigen. Andere vertreten die Ansicht, Putin habe lediglich die Gelegenheit ergriffen, als sie sich bot, habe Eventualfallpläne aus der Schublade gezogen, wie sie jeder Generalstab bereithält, und habe dann unter dem Druck der russischen Ultranationalisten auch die ukrainischen Separatisten nicht verlieren lassen können. Ihm liege sehr daran, zwischen dem Westen und Russland Pufferzonen zu schaffen; frozen conflicts wie in Georgien und Transnistrien – oder bald im Donbass? – dienten eindeutig diesem Zweck. Sicherheit sei ihm wichtiger als Expansion, argumentiert beispielsweise Mary Dejevsky im Guardian.
Den Isolationisten und Populisten beschreibt die dritte Denkschule. Sie argumentiert völlig anders. Dazu ein Zitat von Ivan Krastev und Stephen Holmes:: „Putins Politik hat fast nichts mit Russlands traditionellem Imperialismus oder Expansionismus zu tun (...) Putin träumt nicht davon, Warschau zu erobern oder Riga aufs Neue zu besetzen. Im Gegenteil: Seine Politik ist der Ausdruck eines aggressiven Isolationismus. Putin fürchte offene Grenzen und sei daher auf Abschottung aus. Er will, schreibt auch Dmitri Trenin, der Direktor von Carnegie Moscow, jeglichen Einfluss von außen ausschließen und das russische Volk unter der Fahne einer neuen National-Idee um sich scharen. Dies sei seiner Überzeugung zuzuschreiben, dass der westliche Einfluss, die Dekadenz Europas („Gayropa“), seine postnationalistische Ordnung das russische Grundgefühl bedroht; daher seine Hinwendung zur Orthodoxie, zum Neo-Panslawismus, zum Eurasien-Traum des politphilosophischen Rechtsauslegers Dugin, zur Mobilisierung des Volkes durch aufputschende patriotische Reden. Zugleich sucht er sich auf der Weltbühne die Handlungsfreiheit zu verschaffen, die dem Kreml erlaubt, Russlands nationale Interessen global und regional durchzusetzen.
Welche dieser unterschiedlichen Lesarten die richtige ist, werden erst die Historiker feststellen können. Jetzt ist es wohl am Vernünftigsten, wie Le Monde von einem „Cocktail Putin“ auszugehen – ihn also als ein Chamäleon anzusehen, der alles sein kann: Aggressor, wenn er nicht abgeschreckt wird; verletzte Seele, die sich womöglich durch das Eingeständnis und die Korrektur westlicher Fehler begütigen ließe; opportunistischer Neo-Panslawist, dem die Abkehr von Europa durch ein überwölbendes Zusammenarbeits-projekt – gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur und eine gemeinsame Wirtschaftszone von Lissabon bis nach Wladiwostok – vielleicht auszureden wäre. Voraussetzung für die beiden Optionen ist freilich eine befriedigende, befriedende Lösung der Ukraine-Krise. Indessen lässt sich auch nicht ausschließen, dass Putin besessen und verbohrt bei seiner herausfordernden Linie bleibt. Einen Krieg wird er sicherlich nicht riskieren wollen. Doch steuert er, dessen Amtszeit noch bis 2014 dauern könnte, auf einen neuen Kalten Krieg, bestenfalls einen Kalten Frieden zu.
Unleugbar haben Amerika und die EU in ihrer Russlandpolitik gravierende Fehler begangen.
---Sie haben Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht wirklich als Partner gesehen, sondern es als vernachlässigbare Konkursmasse betrachtet. Die Russen fühlen sich dementsprechend gedemütigt und übervorteilt.
---Die Interessen und Ansichten Moskaus wurden nur unzureichend beachtet. Von 2002 an versuchten die USA, in Polen und Tschechien ein Raketenabwehrsystem aufzubauen, das Moskau als Bedrohung empfand; erst 2009 gab Obama das Projekt auf. Zugleich wurde die Ausdehnung der NATO bis an Russlands Haustür ohne Rücksichtnahme auf Moskau vorangetrieben. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn bei; 2004 mit Litauen, Lettland und Estland erstmals Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, daneben Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien; die von Washington betriebene Aufnahme der Ukraine und Georgiens scheiterte 2008 am Einspruch von Berlin und Paris. Putin fühlt sich, wenn schon nicht bedroht, so doch bedrängt. Die Sorge um den Kriegsmarine-Stützpunkt Sewastopol auf der Krim hat ihn dann auch mit Sicherheit stärker umgetrieben als das vorgeschobene Schutzbedürfnis der Russischsprachler in der Krim: viele Experten sehen darin den eigentlichen Grund seiner Annexionspolitik. Hinzukam, dass aus dem 2002 gegründeten NATO-Russland-Rat, in dem Moskau, eng in die westlichen Sicherheitskonsultationen einbezogen werden sollte, nie ein Instrument entschlossener Annäherung geworden ist. Vielmehr wurden die Kontakte sowohl 2008 in der Georgienkrise als auch 2014 in der Ukrainekrise abgebrochen.
---Die Anregungen für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa und für einen Gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok, die während der Präsidentschaft Medwedjew aus Moskau kamen, wurden nie ernsthaft aufgenommen.
---Ohne jedes Feingefühl betrieb Brüssel auch die Assoziierung der Ukraine mit der Europäischen Union. Dies, obwohl nach Umfrage des Kiewer Razumkow-Zentrums aus dem April 2013 nur 42 Prozent für das EU-Assoziierungsabkommen stimmten, 33 Prozent jedoch sich für eine Zollunion mit Russland aussprachen – und obwohl die historisch gewachsene enge wirtschaftliche Verflechtung der Ukraine mit Russland ein rechtzeitige Absprache mit Moskau nahegelegt hätte. Keine Wunder, dass der Vollzug der wirtschaftlichen Vorkehrungen mittlerweile ausgesetzt worden ist, um Zeit für die notwendigen Verhandlungen mit dem Kreml zu gewinnen. Kein Wunder aber auch, dass Putin Anstoß an dem übrig gebliebenen Teil Anstoß nimmt, in dem es an mehreren Stellen um militärische Zusammenarbeit, Konvergenz in Sicherheitsfragen und gemeinsames Krisenmanagement bei „regionalen Herausforderungen und Schlüsselbedrohungen“ geht – geradeso, als sei die EU hier Vorreiter und Statthalter der NATO. Man hätte es wissen können, denn Außenminister Lawrow hatte schon 2008, als die EU die „Östliche Partnerschaft“ aus der Taufe hob, sie beschuldigt, Osteuropa zu seiner „Einflusssphäre“ zu machen
Jetzt ist die Lage fürchterlich verfahren. Ich hoffe, dass unverdrossene Diplomatie das Schlimmste verhindern kann. Wobei ich bei der Ansicht bleibe, die ich seit langem vertreten habe: dass es unklug ist, die Ukraine in die Zerreißprobe eines ost-westlichen Tauziehens zu treiben. Sie sollte nicht Bastion und Speerspitze entweder der Russen oder der Westeuropäer sein. Ihre natürliche Rolle ist die einer Brücke. Da sind recht verschiedene Modelle denkbar: das finnische Modell – enge wirtschaftliche Verbindung mit beiden Seiten, aber militärische Neutralität oder auch das Modell Südtirol, das die ethnische und sprachliche Identität einer Volksgruppe in einem Autonomie-Rahmen verbürgt, der die Integrität des Staates nicht berührt.
(Exkurs zu „Einflusssphären“)
8. Unheilvoll sieht es im Mittleren Osten aus, der in den vergangenen siebzig Jahren mehr Kriege zwischen Staaten erlebt hat als irgend eine andere Weltregion (Iran/Irak, Irak/Kuweit, US/Irak, Israel/arabische Staaten; Afghanistan). Gewalt, Fanatismus und gegensätzliche geopolitische Ambitionen ergeben dort ein explosives Gemisch. Gegenwärtig haben wir es zwischen Mittelmeer und Kaspischem Meer mit drei Krisen zu tun: einer unheilschwangeren Zuspitzung im israelisch–palästinensischen Verhältnis, dem fünf Jahre alten Bürgerkrieg in Syrien und dem Zerfall des Irak. In den beiden mesopotamischen Staaten sucht die ISIS ihren eigenen Staat, einzurichten, ein neues „Kalifat“. Dies führt dazu, dass die innerstaatliche Ordnung in beiden Staaten zerfällt und die 1916 von dem britischen Diplomaten Mark Sykes und dem französischen Diplomaten Georges Picot gezogenen Grenzen sich mehr und mehr auflösen. Dies gilt auch anderswo in der Region, in der Bürgerkriege seit Jahrzehnten endemisch waren; denken Sie nur an die Kämpfe im Libanon, in Kurdistan, im Sudan, im Jemen. Auch dort verlieren staatliche Grenzen mittlerweile an Relevanz.
Die spannungsreiche Rivalität zwischen Iran und Saudi-Arabien bildet den Hintergrund der Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten in der ganzen Region. Dabei ist klar, dass ohne eine Verständigung zwischen Riad und Teheran weder die blutigen Auseinandersetzungen in Syrien und dem Irak noch der konfessionelle Antagonismus in der Region ein Ende finden können.
Diese Auseinandersetzungen lehren uns im Übrigen, dass der Zusammenprall zweier Glaubensrichtungen innerhalb der muslimischen Welt mindestens ebenso viel Wahrscheinlichkeit für sich hat wie der Huntingtonsche Krieg zwischen den Zivilisationen. Jedenfalls erinnern die Kämpfe innerhalb des islamischen Kulturkreises fatal an die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten, welche die Christenheit nach zwei Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen Gottseidank schon lange hinter sich hat. Doch verleiht ISIS auch Huntingtons These eine unerwartete Aktualität. Es handelt sich dabei ja nicht bloß um eine Bande bigotter Terroristen, sondern um ein totalitäres, expansionistisches und hegemonisches Projekt. Zu Recht sagt Volker Perthes, der SWP-Chef und Mittelostexperte, dass ISIs eine gefährliche militärischen, politische und ideologische Bedrohung bleibt, solange es in Damaskus und Bagdad keine funktionierenden Regierungen gibt, die allen Glaubensrichtungen Schutz und Entfaltungsraum bieten; solange aus Saudi-Arabien keine andere Botschaft kommt als die der wahhabistischen Denkschule des Islam; und solange die Spannung zwischen Saudi-Arabien und Iran den Religionsextremisten der Region ständig neue Nahrung zuführt.
Der israelisch-palästinensische Konflikt bleibt virulent, wie der Fünfzig-Tage- Krieg um Gaza im vergangenen Sommer gezeigt hat; eine Friedensregelung steht nicht zu erwarten und an eine Zweistaatenlösung vermag ich nicht länger zu glauben. Ein Konflikt zwischen Israel und Iran ist überdies nicht auszuschließen, wenn die Scharfmacher um Netanyahu ein mögliches Abkommen über die Begrenzung des iranischen Atomprogramms zum Anlass eines Vernichtungsschlages nehmen. Zugleich erscheint mir die Zukunft Afghanistans nach dem Abzug der ISAF als höchst ungewiss.
„Niemand kann heute voraussehen, wie der Nahe und Mittlere Osten in fünf oder zehn Jahren aussehen werden,“ sagt Volker Perthes. „Der Megatrend ist der Zerfall der regionalem Ordnung – ohne dass jemand da ist, der sie wieder zusammenbauen würde.“ In der Tat sind die Großmächte weder willens noch in der Lage, der Region eine neue Ordnung überzustülpen, noch können sich die rivalisierenden Staaten der Region auf eine neue Ordnungsvorstellung verständigen.
Die Frage ist, wie der Westen sich gegenüber den orientalischen Turbulenzen verhalten soll. Sollte er Truppen schicken? Militärisch nur mit der Luftwaffe eingreifen? Die regionalen Akteure ertüchtigen? Oder sich heraushalten? Diese Fragen werden uns wohl noch länger beschäftigen. Eines allerdings ist klar: Von Demokratisierung spricht kaum noch jemand; Stabilität gewinnt Vorrang vor Transformation.
9. Spannungsgeladen ist auch der asiatisch-pazifische Raum. Dort befinden sich die gefährlichsten Konfliktherde der Welt: Kaschmir, Taiwan, Korea. Die Himalaya-Grenze zwischen China und Indien war 1962 Schauplatz eines erbitterten Krieges, heute noch kommt es dort ständig zu Scharmützeln und Gefechten. Darüber hinaus gibt es unzählige Spannungslinien.
Zwischen Hainan und Hokkaido ist kaum eine Inselgruppe unumstritten – ich nenne bloß die Paracel-Inseln und die Spratley-Inseln oder das Scarborough-Riff im Südchinesischen Meer, auf die China, Vietnam, Malaysia und die Philippinen Anspruch erheben; oder an die Senkaku/Diaoyutai-Gruppe im Ostchinesischen Meer, wo Japaner und Chinesen in riskanten Militärmanövern immer wieder aneinander geraten. Zugleich zeichnet sich in ersten Umrissen auch eine bedrohliche Rivalität zwischen China und Amerika ab. Dabei geht es um die Vorherrschaft im Pazifik. Noch ist nicht entschieden, welche Linie sich da in Washington und Peking durchsetzen wird: die Linie Kommunikation–Kooperation–Koexistenz oder die Linie Konfrontation–Krise–Konflikt.
10. Eine Weltregierung wird es so bald nicht geben. Wohl aber wird sich allmählich ein Stück world governance entwickeln, Regeln, Normen und Vorschriften für die weltweite Zusammenarbeit jener Staaten, die aus der Globalisierung einen Erfolg machen wollen und die sich der Notwendigkeit bewusst sind, grenzüberschreitende Probleme – problems without passports, wie Kofi Annan sie genannt hat – grenzüberschreitend zu lösen. Die Nationen haben die Hoheit über ihr Wirtschaftsleben verloren; die Geschäftswelt ist staatenlos, ja vaterlandslos geworden. Aber auch die Umweltpolitik entzieht sich heute der rein nationalen Gestaltung; der saure Regen kennt keine Grenzen, und auch der Klimawandel ist bloß durch nationale Politik nicht aufzuhalten. Die Probleme ohne Reisepässe brauchen ganz neue Ansätze. Luftverpestung, Verseuchung der Ozeane, Energiesicherheit, Wassermangel (unter dem 2 Milliarden Menschen kleiden), Massenmigration, Epidemien und Pandemien wie Ebola – das alles braucht transnationale Regelwerke, transnationale Verfahren, transnationale Institutionen. Es braucht global governance. Diese zu schaffen, ist nach meiner Ansicht die dringlichste und wichtigste Aufgabe der Staatskunst im 21. Jahrhundert.
V.
Gestatten Sie mir noch eine abschließende Bemerkung. So sehr wir uns auch bemühen, den Schleier zu lüften, der das Morgen vom Heute trennt – mehr als bestenfalls kluge Verlängerungen gegenwärtiger Trends in die Zukunft werden wir schwerlich entdecken. Doch Trends, statistische Maßgaben, auch die Launen und Stimmungen der Völker sind nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite : das ist das Wollen jener geschichtlichen Gestalten, die solche Trends umkehren, die statistische Maßgaben außer Kraft setzen, die Launen und Stimmungen der Völker in neue Bahnen lenken. Führungskraft ist ein Faktor, der Geschichte gestaltet; die Ereignisse und die Umstände sind der andere.
Es wird, wie stets in der Geschichte, auch in der vor uns liegenden Epoche Überraschungen geben. Wir müssen uns auf Blitze aus heiterem Himmel gefasst machen. Das Unvorhergesehene, Unvorhersehbare wird die Zeitläufte mindestens so stark prägen wie das Erwartbare. Schon Aristoteles hat ja gesagt: „Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche geschieht“. Keine Langfristprognose hat den Zusammenbruch des Sowjetimperiums vorhergesagt, die Eruption des Dschihad-Terrorismus, die rasche Ausbreitung der Informationstechnik und den Siegeszug von Computer, Internet und Handy. Auch künftighin werden wir uns auf allerhand Unerwartetes, ja: Ungeahntes gefasst machen müssen – aber mit Glück auch auf manches Unerhoffte uns freuen dürfen.
Ich halte es da mit Paul Valéry: „Le pire n’est jamais certain“ – das Schlimmste ist nicht immer gewiss. Vernunft, Einsicht und Führungskraft können es abwenden. Doch auch das, was uns die Normalität des internationalen Lebens beschert, wird uns reichlich in Atem halten.
Vor 70 Jahren: Kriegsende und Neubeginn, Mai 2015
Erinnerungen und Reflexionen
Heute vor siebzig Jahren endete in Europa der Krieg, den Adolf Hitler 1939 mutwillig, größenwahnsinnig und verbrecherisch vom Zaun gebrochen hatte.
Am 7. Mai setzten um 2.41 Uhr morgens in einem kleinen roten Schulhaus der Stadt Reims, dem Hauptquartier General Eisenhowers, Generaloberst Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Generaladmiral von Friedeburg und der Luftwaffengeneral Oxenius ihre Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde. Am nächsten Tag wurde die Zeremonie im Hauptquartier von Marschall Schukow, der früheren Pionierschule der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst, medienwirksam wiederholt. Stalin hatte darauf bestanden, um aller Welt deutlich zu machen, dass das Deutsche Reich an sämtlichen Fronten die Waffen streckte. Für Deutschland unterzeichnete diesmal Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel. Er verabschiedete sich mit erhobenem Marschallstab. Niemand nahm bei seinem Abgang Notiz von ihm. Die Kapitulation trat an allen Fronten am 9. Mai um 0.01 mitteleuropäischer Sommerzeit in Kraft. Der Krieg war vorüber.
Adolf Hitler hatte sich zehn Tage zuvor im Führerbunker der Berliner Reichskanzlei erschossen. In Flensburg amtierte danach noch drei Wochen lang eine geschäftsführende Reichsregierung unter dem Reichspräsidenten Großadmiral Karl Dönitz. Am 23. Mai wurden ihre Mitglieder von den Westalliierten verhaftet. An dem sonnigen Vormittag dieses 23. Mai wurde in der Marineschule Mürwik die Reichskriegsflagge für immer eingeholt. Es gab kein Drittes Reich mehr. Genau genommen gab es überhaupt kein Deutsches Reich mehr. Die deutsche Nation war ihres staatlichen Gehäuses beraubt. Die oberste Gewalt lag nun bei den Siegern.
Niemand vermochte sich damals vorzustellen, dass wenige Jahre später schon mit der Bundesrepublik Deutschland ein neuer deutscher Staat auf den Plan treten werde – wie der Zufall der Begebenheit es wollte, auf den Tag genau vier Jahre nach dem Ende in Flensburg, am 23. Mai 1949, dem Tag, an dem das Grundgese in Kraft trat.
Exkurs Th. S. 8. Mai
Das Deutsche Reich endete in Schutt und Schande.
Die Schande war offenbar. Der Angriffskrieg, die grausame Herrschaft des Hakenkreuzes in den überfallenen Ländern, die Feueröfen der Vernichtungslager – das alles wurde uns nun vorgehalten und heimgezahlt. Das Nazi-Regime hatte den europäischen Kontinent unter sein Joch gezwungen, die eroberten Völker im Osten zu Untermenschen gestempelt, sechs Millionen Juden in seinen Todesfabriken ermordet. Zumeist waren es Deutsche, die das Schreckliche willig oder willenlos vollstreckten. Deutsche waren fünf Jahre lang Täter, ehe sie Opfer wurden. Im Jahre 1945 kam das vergossene Blut über uns.
Dies müssen wir uns immer wieder sagen, auch wenn es schmerzt. Die Deutschen haben bei Kriegsende unendlich gelitten. Flucht und Vertreibung, der Bombenkrieg der Royal Air Force und der U.S. Air Force, die Massenvergewaltigungen der Roten Armee, Kriegsgefangenschaft und Internierung, Demütigungen und Entbehrungen, Hunger und Kälte waren damals unser Los. Doch lässt sich nicht daran rütteln: Den deutschen Leiden gingen die deutschen Gräueltaten voraus.
Deutschland war ein Ruinenfeld. Als sich die Überlebenden nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht umblickten, entdeckten sie als erstes den ungeheuren Grad der Zerstörung. Schutt war das einzige, was es mehr als reichlich gab in der Trümmerwelt, die der Krieg hinterlassen hatte: rund 400 Millionen Kubikmeter. In Hamburg allein, um ein Beispiel herauszugreifen, waren 43 Millionen Kubikmeter zu beseitigen, 25 Kubikmeter pro Einwohner; man hätte damit die Außenalster zuschütten und noch einen Hügel von zwanzig Meter Höhe obenauf setzen können. Überall in den deutschen Städten wuchsen jetzt die Trümmerberge aus dem Boden: der Monte Scherbelino in Stuttgart etwa oder in Berlin der Monte Klamotte und viele ähnliche Aufschüttungen in anderen deutschen Städten..
Während die Russen in den von ihnen besetzten Gebieten marodierten, plünderten und vergewaltigten, vergewaltigten Amerikaner und Engländer das unbesetzte Deutschland aus der Luft. Von Anfang Januar bis Ende April schickte allein das britische Bomber Command seine Maschinen auf 79 000 Feindflüge. Bomber Command und die U.S. Air Force warfen zusammen in den letzten vier Kriegsmonaten 370 000 Tonnen Spreng- und Brandbomben über dem Reichsgebiet ab –¬ ein Viertel dessen, was sie im gesamten Krieg auf Deutschland haben niederregnen lassen. In dieser viermonatigen Endphase ist ein Viertel der halben Million Menschen umgekommen, die im ganzen Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf deutsche Städte starben. Vom Jahresbeginn bis Ende April forderte der Bombenkrieg im Durchschnitt jeden Tag tausend Todesopfer; insgesamt 130 000, davon 35 000 allein in Dresden.
In Blut und Feuer ging damals eine deutsche Stadt nach der anderen unter. Das alte Deutschland verschwand ¬– das Land der Fachwerkfronten, der Renaissance-Fassaden, der Barockbauten und des preußischen Klassizismus. Dies war die Folge von Hitlers Durchhaltewahn und seines Zerstörungswillens, der in dem Satz gipfelte: „Wir können untergehen, aber wir werden eine Welt mitnehmen“. Es war aber auch die Folge der alliierten Luftterror-Strategie. Gewiss, Hitler hatte in Warschau, Rotterdam und Coventry damit angefangen – „Wir werden ihre Städte ausradieren!“, hatte er den Gegnern angedroht. Aber die bewusste, vorsätzliche und gnadenlose Verwandlung deutscher Wohnviertel in Trümmergräber überstieg bei weitem das Maß des strategisch Gebotenen. Selbst Churchill wandelten Zweifel an, als er Luftaufnahmen der zerstörten deutschen Orte sah. „Sind wir Tiere?“, fragte er. „Gehen wir damit nicht zu weit?“
Die Vergeltung sei viel weiter gegangen, als man sich dies in Amerika vorstelle, kabelte General Clay nach dem Ende der Kampfhandlungen an das amerikanische Kriegsministerium: „Unsere Flugzeuge und unsere Artillerie haben ... den Krieg bis in die Wohnstätten der Deutschen getragen“. Der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg hat die daraus resultierenden Zustände beschrieben:
„Die Zahl der Obdachlosen ging in die Millionen. Ein Zimmer diente in vielen Fällen als Wohnraum für eine ganze Familie. Keller und Boden, Baracken und Wellblechhütten, Ruinen und Lagerhallen nutze man als Unterschlupf. In den zerbombten Innenstädten zogen sich da, wo ehemals schmale Straßen und Gassen verliefen, Trampelpfade über die staubigen Trümmer. Forsythien, Flieder und Jasmin blühten dagegen verschwenderisch und verwilderten in Gärten, deren Häuser nicht mehr standen“. Nach der amtlichen Statistik kamen in der britischen Besatzungszone durchschnittlich 6,2 Quadratmeter Wohnraum auf eine Person, und nur unwesentlich mehr in der amerikanischen, russischen und französischen Zone.
Für Zigtausende hieß die Parole nun monatelang Schippen, Enttrümmern, Ziegel stapeln. Jeder konnte zu Aufräumungs-arbeiten herangezogen werden. Ehemalige Mitglieder der NSDAP mussten Sonderschichten ableisten. Doch die Hauptlast hatten die Frauen zu tragen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Gedanken einflechten, der mir schon immer wichtig war. Es ist ein kalendarischer Zufall, dass in diesem Jahr der 8. Mai auf den Sonntag fällt, den wir als Muttertag feiern – den Sonntag, an dem wir unsere Mütter feiern.
Nach meiner Geburtsurkunde bin ich ein alter Mann – einer aus jener Generation der Flakhelfer und Volkssturmleute, denen es im Alter von vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahren auferlegt wurde, den Krieg noch verlieren zu helfen. Als wird uns damals, im Sommer 1945, nach Hause durchgeschlagen hatten, waren die Väter, wenn sie nicht überhaupt gefallen oder als vermisst gemeldet waren, meist noch nicht wieder da. Sie befanden sich in Kriegsgefangenschaft – unter unsäglichen Bedingungen selbst bei den Westalliierten, in deren Lagern auf den Rhein- und Mainwiesen rund hunderttausend Mann elendiglich krepierten.
In dem besiegten Deutschland gab es 1945 7,3 Millionen Männer als Frauen. Ein Wunder war dies nicht, denn im Krieg waren 3,7 Millionen Männer gefallen, und an die zwölf Millionen kamen bei Kriegsende in Gefangenschaft. Die Mühsal des Überlebens lag vor allem auf den Schultern der Frauen.
Die Frauen hielten die Familien zusammen. Sie gingen Hamstern auf dem Lande. Sie zogen mit Axt in Säge in die Wälder zum Holzeinschlag. Sie sammelten Pilze und dörrten Apfelringe; sie standen vor der Freibank nach einem Schweinskopf, ein paar Pferdekoteletts oder wenigstens einer Handvoll Suppenknochen an; sie züchteten Hühner und Kaninchen und schneiderten uns Trachtenjoppen aus den Uniformröcken der Väter. Oft genug verzichteten sie zugunsten der Kinder auf ihre eigene Schreibe Brot.
Und sie waren es auch, die in den verwüsteten Städten die Trümmer beiseiteräumten. Die „Trümmerfrauen“ sind zur Legende geworden, zum Symbol für unerschrockenes Anpacken, für Zähigkeit und Lebenswillen unter widrigsten Umständen. Sie ließen nicht locker; sie strampelten sich ab; sie verausgabten sich – Heldinnen des Durchhaltens in einem ganz anderen als dem von den Fanatikern im Führerbunker verfochtenen Sinne.
Es waren die Mütter, die Frauen, die meine Generation durch die schweren Zeiten gebracht haben. Ich stehe nicht an zu sagen: Wenn wir als Volk überlebt haben, so danken wir dies ihnen – ihnen fast allein.
Im übrigen herrschte in dem besiegten und besetzten Deutschland das reine Chaos. Es ging drunter und drüber. Millionen Menschen waren in der größten Völkerwanderung der Neuzeit unterwegs:
– 300 000 Überlebende der Konzentrationslager;
– achteinhalb Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die Arbeitssklaven des Dritten Reiches, die nun als displaced persons auf ihre Heimführung warteten, wobei viele räubernd durch die Gegend zogen, Bauernhöfe überfielen und sich buchstäblich „auf eigene Faust“ versorgten;
– fünf Millionen deutsche Kriegsgefangene, die das Glück hatten, im Laufe des Jahres 1945 heimkehren zu dürfen;
– mehrere Millionen von Deutschen, die vor den Russen nach Westen geflohen waren und zu denen nach dem Beginn der Zwangsaussiedlung bald die ersten brutal aus Ostpreußen, aus Schlesien, aus dem Sudetenland und Ungarn Vertriebenen hinzustießen;
– dazu Millionen von Bombenevakuierten, die nun nach Hause strebten und Hunderttausende von Jugendlichen, die aus der „Kinderlandverschickung“ zurückkehrten.
Sie alle wirbelten im Chaos des Kriegsendes durch ein Deutschland, in dem kaum noch ein Stein auf dem anderen stand, in dem die Maschinen in den Fabriken stillstanden, Schulen und Universitäten geschlossen waren. Von 60 000 Kilometern des Reichsbahnnetzes war ein Drittel unbefahrbar; die Hälfte des rollenden Materials war Schrott. Auch die Versorgung war so gut wie total zusammengebrochen. Da half nur „organisieren“. Unzählige Heeresversorgungslager und Lebensmitteldepots wurden in den Wirren der ersten Zeit geplündert. Danach versorgte man sich, so gut es ging; durch die Verwandlung von Parks in Gemüsegärten; durch Tauschhandel; durch Betteln bei den Bauern; oder durch „Fringsen“ – Klauen mit dem Segen des Kölner Kardinals Frings, der in einer Silvesterpredigt den Schäfchen seiner Diözese vorbeugend Absolution dafür erteilte, dass sie sich in der Not das nahmen, was sie zum Leben brauchten – vor allen Dingen Kohle.
.
Aus dem Tauschhandel entstand schon bald der Schwarze Markt. Dort gab es alles : Pelze, Schmuck, Teppiche, Möbel, Kunstgegenstände, Lebensmittel, Schuhwerk und Kleidung. Heiß begehrt waren Nylonstrümpfe, Kaugummi, Seife und Süßigkeiten Im Juli 2945 notierte Erika Mann folgende Preise: Butter 1000 Mark das Pfund, Zucker 175 Mark, Kaffee 500 Mark, Tee 600 Mark. Ein Brot kostete 30 Reichsmark. Ein Großteil der Schwarzmarktware stammte aus den Läden der U.S. Army und britischen Armee. Dies galt vor allem für amerikanische Zigaretten, die zur Leitwährung des Schwarzen Marktes wurden. Eine Stange – zehn Päckchen à zwanzig Stück – kostete zwischen tausend und fünfzehnhundert Mark; fünf Mark, zuweilen auch zehn Mark pro Glimmstängel waren gängige Preise. Die Reichsmark, die den Arbeitern und Angestellten ausbezahlt wurde, spielte demgegenüber keine Rolle, mit ihr konnte man nur noch die amtlichen Zuteilungen auf Lebensmittelkarte und Kleiderkarte bezahlen.
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Schwarzmarkt funktionierte, findet sich in den Akten des amerikanischen Kongresses. Es geht dabei um den Fall eines Bergarbeiters, der in der Woche 60 Reichsmark verdiente. Gleichzeitig besaß er ein Huhn, das in der Woche durchschnittlich fünf Eier legt. Eines davon aß der Bergmann gewöhnlich selbst, die vier übrigen tauschte er gegen zwanzig Zigaretten ein. Diese stellten auf dem Schwarzen Markt bei einem Tagespreis von acht Reichsmark einen Gegenwert von 160 Reichsmark dar. Das Huhn verdiente also mit seiner Leistung nahezu dreimal soviel wie sein Besitzer.
Nach damaligen Schätzungen vollzog sich die Hälfte des gewerblichen Umsatzes durch Tausch- und Schwarzhandel außerhalb der Bewirtschaftung. Naturgemäß blühte auf dem Schwarzmarkt die organisierte Kriminalität. Für viele Rechtschaffene jedoch war er die Rettung aus der Not. Er gestattete es, immer wieder einmal ein Loch zu stopfen
„Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!“, hatten die Deutschen einander in grimmigem Humor zugerufen, als es offenkundig dem Ende zuging. Das war zu der Zeit, da man einander zum Abschied nicht ein „Auf Wiedersehen“ oder „Servus“ zu entbieten pflegte, sondern lieber ein trotziges: „Bleib übrig!“ Für die Übriggebliebenen aber galt nach wie vor das damals viel zitierte Rilke-Wort: „Überstehen ist alles.“
Die Bilanz des Krieges lastete auf den Gemütern. Zerbombte Städte, in denen fünfhunderttausend Zivilisten den Tod gefunden hatten. Vierzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene; 2,8 Millionen, die auf der Flucht ums Leben gekommen waren; 3,76 Millionen gefallene deutsche Soldaten, eine halbe Million Vermisste; vier Millionen Verwundete, von denen viele an Krücken durch die Trümmerwelt humpelten – Wolfgang Borcherts Unteroffizier Beckmann, der Mann mit der Gasmaskenbrille und dem steifen Knie aus „Draußen vor der Tür“, wurde zum Sinnbild der ganzen heillosen Epoche. „Die beiden Männer saßen auf der Kaimauer der Mauer und ließen drei Beine übers Wasser hängen“ – der makabre Satz des Dichters fing die graue Wirklichkeit wie in einem Brennglas ein.
Fünfzig Jahre nach dem Kriegsende haben die Deutschen darüber gestritten, was das denn damals gewesen sei: Zusammenbruch oder Befreiung. So hat freilich im Frühjahr 1945 kaum jemand die Frage gestellt. In Wahrheit war es beides: Zusammenbruch und zugleich Befreiung.
Der Zusammenbruch war offenkundig. Viele hatten nur das nackte Leben gerettet. Viele hatten ihre Heimat verloren, viele ihre Wohnung. Die Städte lagen in Trümmern. Industrie, Gewerbe und Handwerk existierten praktisch nicht mehr. Die Verwaltung funktionierte nicht, die Schulen und Universitäten blieben lange Zeit geschlossen. Den Deutschen flogen die Scherben des Reiches um die Ohren.
Die Besatzungsherrschaft der Sieger erschien den meisten zunächst mehr als Bedrückung denn als Befreiung. Gewiss, man war befreit von der Angst – der Angst, die nächste Bombennacht nicht zu überleben; der Angst um Mann oder Sohn an der Front; der Angst, dass der Krieg noch endlos weitergehen könne. Dafür plagten nun neue Ängste die Menschen. Die Ängste des Alltags: Wie sollte man bis morgen überleben? Zukunftsängste: Was würde aus einem werden – und was aus Deutschland? Und ganz beklemmende innere Ängste: Wie weit war man selber schuldig geworden in den Jahren der Hitlerei, schuldig im Handeln, schuldig im Denken, schuldig im Gewährenlassen, im Nicht-Aufbegehren gegen Unrecht?
Wirklich befreit fühlten sich die politischen Gegner des Hitler-Regimes, wer aktiv im Widerstand mitgetan hatte, wer als Jude, Zigeuner oder Homosexueller verfolgt worden war. Sie alle atmeten im Mai 1945 auf.
Als Zusammenbruch aber empfanden das Ende des Dritten Reiches all jene, die naiv-idealistisch an Hitler geglaubt hatten. Sie standen nun verbittert vor dem Scheitern ihrer Illusionen, vor der Sinnlosigkeit ihrer Hingabe und vor der Vergeblichkeit ihres Leidens – vollends, als ihnen die von den Besatzungsmächten verordneten Besichtigungen der Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern ein für allemal den wohlfeilen Trost nahmen, dass die Dokumentarfilme und Photos, die nun allüberall gezeigt wurden, lediglich Fälschungen der alliierten Propagandazentralen wären.
Theodor Heuß, der vier Jahre später der erste Bundespräsident wurde, hat das Kriegsende einmal so gekennzeichnet: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie für jeden von uns. Warum? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“
Erlöst und vernichtet: Bei den meisten Deutschen überwog damals das Gefühl des Vernichtet-worden-Seins die Erleichterung über die Erlösung. Erst im Abstand von vierzig Jahren konnte einer der Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, auf uneingeschränkten Beifall zählen, als er sagte:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schwere Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und dem Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Damals hatten die wenigsten Menschen den Kopf frei für derlei Gedanken. Die Bewältigung des Alltags verlangte ihre ganze Kraft; die Bewältigung der Vergangenheit kam erst sehr viel später. In der Bedrängnis der Gegenwart war die Verdrängung des Gewesenen weniger ein verstocktes Wegsehen oder Nicht-Wissen-Wollen als vielmehr ein Ausdruck der totalen Konzentration auf das tägliche Überleben.
Im Abstand von siebzig Jahren tritt ein Faktum mit großer Eindeutigkeit hervor, das damals schwer zu erkennen und noch schwerer zu glauben war: Der braune Spuk war vorüber, der Nationalsozialismus ein für allemal erledigt. Die Deutschen mochten apathisch sein, sie mochten sich im Schock des katastrophalen Endes auch der Einsicht in die Wurzeln ihres nationalen Unglücks zunächst verschließen. Eines jedoch waren sie nicht mehr: Nazis. Da war niemand, der die Fackel aufnahm, die Hitler entglitten war. Es gab nie eine Werwolf-Guerilla. Es gab auch jene Alpenfestung nicht, von der das alliierte Oberkommando befürchtete, dass sie den Kampf über die Kapitulation hinaus in blindem Nibelungenwahn fortsetzen werde. Und es gab vor allem keine Trauer um Adolf Hitler. Im Gegenteil: Das deutsche Volk, das der Führer des Überlebens für unwürdig erklärte hatte, reagierte auf die Nachricht von seinem Tode mit Erleichterung und Teilnahmslosigkeit. Es war wie bei einer elektrischen Kochplatte: Sobald der Strom abgeschaltet ist, erkaltet sie. Mit der Kapitulation war das Kapitel der NS-Herrschaft abgeschlossen. Vorbei war einfach vorbei. Die fatale Faszination, die das Hakenkreuz auf ein ganzes Volk ausgeübt hatte, war verflogen, verweht wie die Asche des großen Verführers im Garten der Neuen Reichskanzlei. Sein pathetischer Aufbruch von 1933, sein manisch überspannter Weltentwurf, der von ihm gezüchtete rassenstolze Vernichtungswahn, sein Wille zum Krieg, die lange Kette von Verbrechen, Verletzungen, Verlusten – das alles war Vergangenheit. Auf den Deutschen blieb, wo nicht eine kollektive Schuld, so doch ihre kollektive Schande sitzen. Das Gefühl dafür kam freilich erst später auf. Zunächst forderte die Gegenwart ihr Recht.
Fürs erste überwog die Bitternis des Endes das Versprechen eines neuen Anfangs. Im Mai l945 erschien die Zukunft verhangen. Beengung, Bedrückung, Erniedrigung auch bestimmten das Leben.
Beengung: Wo soviel Wohnraum zerbombt war, mussten schon die Einheimischen zusammenrücken. Nun aber kamen, über ein, zwei, drei Jahre, in ständigem Zustrom die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten, aus dem Sudetenland, aus den Siedlungsinseln der Deutschen in Südosteuropa. Neuneinhalb Millionen treckten allein im Jahre 1945 aus dem Osten in den Westen. Alles in allem erhöhte sich die deutsche Bevölkerungszahl um rund zehn Millionen Menschen. Im Durchgangslager Friedland, eingerichtet Ende September, wurden bis Jahressschluss 553.000 Flüchtlinge registriert. Bis l948 stieg der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen in Schleswig-Holstein auf 38,4 Prozent, auf 32 Prozent in Niedersachsen. Schon 1945
Da blieb schon l945 gar keine andere Wahl: Es hieß noch enger zusammenrücken. Kaum eine einheimische Familie, der nicht Flüchtlinge in die Wohnung gesetzt wurden, an die sie Zimmer abzugeben hatten und mit denen sie sich Küche und Bad teilen mussten.
Zur Beengung kam die Bedrückung. Die Industrieproduktion funktionierte nur noch zu einem Bruchteil. Man behalf sich: Aus Stahlhelmen wurden Siebe gefertigt, Sandalen aus alten Autoreifen, Kannen aus Gasmaskenbehältern. Abgesehen von der Trümmerbeseitigung gab es kaum Arbeit. Wer das Glück hatte, eine Stelle zu finden, verdiente nicht viel; auf ganze 200 Reichsmark Monatslohn brachte es ein Facharbeiter Seit 1935 waren die Löhne und Gehälter eingefroren (erst im Oktober 1948 wurde der Lohnstopp aufgehoben). Vor der Wiedereröffnung der Schulen mussten erst die Lehrer auf ihre Gesinnung überprüft werden. Ausquartierungen zuhauf – zugunsten der Besatzung oder der DPs – brachten zusätzliche Unbill.
Die Erniedrigung, bewusst in Szene gesetzt, tat ein Übriges. Ein striktes nächtliches Ausgangsverbot sperrte die Menschen anfangs von fünf Uhr abends bis sieben Uhr morgens in ihre Häuser, Monate später erst würde die abendliche Sperrstunde auf neun, dann auf halb elf verlegt. Den Deutschen in der französischen Zone war das Radfahren verbotenihre Fahrräder durften sie allenfalls schieben. In Berlin führten die Sowjets die Moskauer Zeit ein, bis dann der Kontrollrat einheitlich für alle Zonen wieder die Mitteleuropäische Zeit festlegte. In der amerikanischen Zone war das Sternenbanner „mit abgenommener Kopfbedeckung“ zu grüßen. Noch im Dezember 1945 wurde es Deutschen verboten, länger als drei Nächte außerhalb des eigenen Wohnsitzes zu verbringen. Auch das Fraternisierungsverbot der Amerikaner und Engländer gehört in diesen Zusammenhang. Es verbot den Besatzungssoldaten, mit Deutschen auch nur zu sprechen; erst im September wurde es aufgehoben.
|
|
|
|
|