Texte aus den letzten 50 Jahren, die mir wichtig waren
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Zu Europa
Ein deutscher Blick auf Europa, Stockholm 2013
I. Einleitung
Ich gehöre einer Generation an, die jubelte, als einige kühne Altersgenossen aus Deutschland und Frankreich 1950 die Rheinbrücke bei Kehl stürmten und dort die Schlagbäume der deutschen und französischen Grenzposten niederbrannten. Für uns, die wir damals um die zwanzig waren, war dies der Beginn des langen Weges nach Europa – des einzigen Weges, der Deutschland nach der Nacht der Hitlerschen Barbarei aus Schande, Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit herausführen konnte.
Wir wussten: Gute Deutsche würden wir nur sein können, wenn wir zugleich gute Europäer würden. Der Wiederaufstieg Deutschlands als Nation erschien uns denkbar nur im europäischen Rahmen. Wir haben auch stets gewusst, dass die Teilung Deutschlands sich nur werde überwinden lassen, wenn zugleich die Teilung Deutschlands überwunden würde. Und wir waren uns immer bewusst – Bundeskanzler Kohl hat es oft genug gesagt –, dass der 80-Millionen-Staat der Deutschen den Nachbarn nur zumutbar erscheinen werde, wenn er sich einfügte in die überwölbende Gemeinsamkeit eines vereinten oder wenigstens eines sich vereinigenden Europas.
Vielleicht erklärt sich aus diesen drei Einsichten, die uns ständig gegenwärtig waren, die Tatsache, dass wir Deutsche immer weit weniger national dachten als unsere Nachbarn, und immer auch ein Quäntchen europäischer, bereit zum Souveränitätsverzicht, zum Abtreten nationaler Befugnisse an die entstehende Europäische Union.
Ich denke, dass dies auch heute noch der Fall ist. Für uns hat es sich ausgezahlt, dass wir unsere Hoffnungen auf Europa setzten. Es hat sich aber auch für Europa insgesamt ausgezahlt.
II. Erweiterung
Die Brüsseler Gemeinschaft war die structure d’accueil, in der sich erst die freien Länder unseres Erdteils zusammenschlossen: 1958 die sechs Gründungsmitglieder Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Luxemburg und die Niederlande, dann in einer ersten Erweiterungsrunde 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark. Es folgten 1981 Griechenland, 1985 Spanien und Portugal: Diesen drei südeuropäischen Staaten bot die EG demokratischen Rückhalt, als sie ihre Diktaturen gestürzt hatten. Nach dem Ende des Kalten Krieges schlossen sich 1995 auch die drei Neutralen Österreich, Finnland und Schweden an; und im Mai 2004 sind acht Staaten aus dem postkommunistischen Europa und die zwei Mittelmeerinseln Malta und Zypern hinzugestoßen, wenige Jahre später auch Bulgarien und Rumänien.
Die Bundesrepublik Deutschland hat diesen Prozess der Erweiterung von Anfang an unterstützt. Vor dem Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise stand sie auch der weiteren Ausdehnung positiv gegenüber. So wird Kroatien im Jahre 2013 beitreten, die übrigen Staaten des westlichen Balkans jedoch werden sich der Krise wegen wohl noch einige Jahre gedulden müssen, erst recht die sich ihrer Bestimmung noch unsicheren osteuropäischen Länder Weißrussland, Moldava und Ukraine.
Seit dem Ausbruch der Euro-Krise stellt sich die Frage schärfer als vordem, wie weit wir uns eigentlich noch erweitern können, ohne das europäische Projekt zu verwässern, ohne es also politisch zu entkernen und zur reinen Freihandelszone zu verdünnen. Vor 200 Jahren fragten Goethe und Schiller in den „Xenien“: „Deutschland, aber wo liegt es?“. Heute müssen wir die Frage aktueller formulieren: „Europa, aber wo liegt es?“ Ganz spezielle: Wo liegt seine östliche Grenze? Diese Frage wird uns alle in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen. Wer gehört dazu, wer nicht? Was tun mit Russland? Das Problem stellt sich übrigens auch an der Südküste des Mittelmeers, wo ebenfalls schon einige Staaten an die Pforten der Europäischen Union klopfen. Wie halten wir es mit dem Maghreb? Mit Israel? Mit einem islamischen, aber demokratischen Ägypten? Und auch die Frage bedarf der Diskussion, in welchem Tempo sich die EU eigentlich erweitern darf, ohne sich zusätzliche Verdauungsbeschwerden einzuhandeln.
In diesem Zusammenhang wird man sich überlegen müssen, welche Andock-Möglichkeiten unterhalb der Vollmitgliedschaft wir für unsere näheren und ferneren Nachbarn schaffen können, die für die Mitgliedschaft dann doch nicht in Frage kommen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik der EU-Kommission weist hier in einer Richtung, die über die bloße Assoziation hinausgeht, aber unterhalb der Vollmitgliedschaft bleibt. So könnte um uns herum ein „Ring von Freunden“ entstehen, wie es Romano Prodi einst formuliert hat. Aber das ist Zukunftsmusik.
Was Russland und die Türkei anbelangt, so habe ich zu beiden eine klare persönliche Meinung.
Das janusköpfige Russland ist ein Sonderfall – teils Europa, teils Asien. Auf alle Fälle ist es mit seinen 140 Millionen Einwohnern so groß, dass es jedwede europäische Gemeinschaft sprengen würde. Es kann daher kaum Vollmitglied der EU werden, genauso wenig wie die Vereinigten Staaten. Beiden muss die Union Partnerschaft anbieten – wobei die USA längst ein guter, wiewohl nicht immer einfacher Partner sind. Russland muss es erst noch werden. Eine Grundlage dafür bietet der Vertrag über Zusammenarbeit und Partnerschaft, den die Europäische Union mit Moskau abgeschlossen hat. Allerdings wird dieser Vertrag nicht weit führen können, wenn die demokratische Transformation Russlands sich nicht verlässlich fortsetzt.
Die Türkei, assoziiertes Mitglied seit 1963, hat schon 1987 ihren Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Beitrittsverhandlungen sind seit einigen Jahren im Gange, doch wann und ob sie zum Erfolg führen, ist derzeit ungewisser denn vordem. Die Europäer sind gespalten, und Erdogans Türkei scheint sich ihres Beitrittswillens immer unsicherer zu werden. Meine persönliche Ansicht ist eindeutig: Wenn die Türkei erst einmal die für alle Anwärter gültigen Voraussetzungen erfüllt – politische Demokratie nicht unter der Fuchtel des Militärs; Beachtung der Menschenrechte nicht bloß auf dem Papier, sondern auch auf den Polizeirevieren Anatoliens; eine Minderheitenregelung nach europäischem Standard für die Kurden, funktionierende Marktwirtschaft –, so wäre es höchst unklug, ihr für immer die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Besser, das Land wird ein Vorposten des Westens im Orient als die Speerspitze des islamischen Fundamentalismus gegen den Westen. Auch denke ich, dass Deutschland mit seinen 2,6 Millionen Einwohnern türkischer Herkunft um seinen inneren Frieden bangen müsste, wenn es hieße, die Türkei gehört nicht nach Europa – dann kämen rechtsradikale Elemente leicht in die Versuchung zu sagen: also gehören die Türken auch nicht nach Deutschland. Doch sollte sich niemand Illusionen machen: Der nötige Anpassungsprozess wird mindestens noch eine Generation dauern; und lange Jahre ergebnisoffener Verhandlungen liegen auf jeden Fall vor uns.
III. Vertiefung
Neben der Erweiterung war die Vertiefung von Anfang an ein entscheidendes Bewegungsmoment des europäischen Integrationsprozesses.
Das begann im Jahre 1950, als meine Altersgenossen am Rhein die Schlagbäume verbrannten, mit der Europäischen Zahlungsunion. 1951 trat die Montanunion ins Leben. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde dann am 1. Januar 1958 aus der Taufe gehoben. Danach wurde die Gemeinschaft ständig vertieft. Sie schuf sich ein Parlament, einen Rechnungshof und viele andere gemeinsame Institutionen. 1979 riefen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing das Europäische Währungssystem ins Leben. Der Einheitliche Binnenmarkt trat 1990 in Kraft.
In Maastricht wurden dann 1991 die Weichen in Richtung Währungsunion und Politische Union gestellt. Am 1. November 1993 trat der Vertrag in Kraft, aus der EG wurde die EU. Das Schengener Abkommen schaffte 1996/97 die Grenzkontrollen zwischen 13 der damals 15 EU-Mitglieder ab. Nur England und Irland hielten sich abseits; dafür beteiligten sich auch die Nicht-EU-Mitglieder Island und Norwegen. Pünktlich am 1. Januar 1999 trat die Währungsunion ins Leben. Sie zählt heute 17 Mitglieder, deren Bürger alle den Euro im Portemonnaie haben. Die jüngste Krise im Euro-Raum hat uns allerdings den Konstruktionsfehler der Euro-Zone grell ins Bewusstsein gehoben: Die Gemeinschaftswährung wurde eingeführt, ohne dass zuvor die Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik vereinheitlicht wurde. Jetzt wird hektisch versucht, das Anfang der neunziger Jahre Versäumte nachträglich zu installieren.
Nur bedingt erfolgreich waren bisher die Versuche, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu vergemeinschaften. Weder Javier Solana noch Lady Catherine Ashton als Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sind gleich zum europäischen Außenminister geworden; nicht nur in der Irak-Krise des Jahres 2003 und der Libyenkrise von 2011 zeigte sich, dass bis dahin noch ein weiter Weg ist. Auch mit der Bündelung der militärischen Fähigkeiten hapert es. Wohl gibt es ein strategisches Konzept der EU, auch sind embryonale militärische und politische Strukturen entstanden; auf dem Balkan hat die Europäische Union in Bosnien-Herzegowina wie im Kosovo die NATO abgelöst. Aber aus dem 1999 beschlossenen Schnellen Eingreifverband von 50.000-60.000 Mann, der binnen 60 Tagen für Operationen von mindestens einem Jahr Dauer einsatzfähig sein sollte, ist bisher nichts geworden. Auch der Spardruck, dem heute alle europäischen Verteidigungsbudgets ausgesetzt sind, hat sich nicht als sehr wirksam erwiesen, um an die Stelle der immer noch weithin national bestimmten Sicherheitspolitik eine rational organisierte Wehrpolitik zu machen. Alle Ansätze, durch Pooling und Sharing eine strategisch wie ökonomisch vernünftige Organisation der europäischen Verteidigung zu erreichen, sind bisher im Dschungel eigenstaatlicher Interessen stecken geblieben.
Positiv zu verzeichnen ist hingegen die Entwicklung des Europäischen Parlaments. In den zurückliegenden Jahren hat es immer mehr Rechte und Befugnisse errungen, beziehungsweise sie den Regierungen und der Kommission abgetrotzt. Die Santer-Kommission hat es nach einer Korruptionsaffäre mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt; dem Präsidenten Barroso hat sie einige unliebsame Kandidaten aus seiner Kommissars-Riege herausgeschossen. Aber noch immer hat das EU-Parlament kein Initiativ-Recht, und das Gros seiner Abgeordneten ist in den Heimatländern so gut wie unbekannt und politisch kaum verwurzelt.
Natürlich haben wir in Europa immer wieder Probleme gehabt – große Probleme, der Dimension des historischen Vorhabens angemessen. Jeder Rückblick lehrt, dass das europäische Einigungswerk kaum je ohne Hängen und Würgen und ohne schwere Krisen vorangekommen ist. All diese Krisen sind jedoch überwunden worden. Es wurden jedesmal Kompromisse geschmiedet, mit denen sich leben ließ. Nach jeder Krise gab es neue Aufbruchsignale.
Dies war nicht anders, als es um jene europäische Verfassung ging, der Europäische Konvent unter der Leitung von Giscard d’Estaing 2003 im Entwurf erarbeitet hatte, die dann jedoch von Franzosen und Niederländern in Volksabstimmungen abgelehnt wurde. Manche hielten dies für das Ende des europäischen Einigungswerkes. Doch in Europa war der Integrationsprozess noch nie am Ende. Es hat immer Auswege oder Umwege gegeben, auf denen sich das jeweilige Ziel doch noch erreichen ließ. So war es nach der Verfassungskrise, und es wird nach der Staatsschuldenkrise der Euro-Zone nicht anders sein – wobei eine durchgängige Vereinheitlichung wohl nicht mehr zu erreichen sein wird.
Differenzierung wird Trumpf. Verschiedene Staaten werden sich in Zukunft in verschiedenem Marschtempo bewegen. Nicht alle werden sämtliche Ziele akzeptieren – überhaupt oder gleich. Es wird nicht nur verschiedene Geschwindigkeiten geben, sondern auch verschiedene Integrationsebenen. Vielfältige Metaphern sind im Gebrauch: variable Geometrie; Olympische Ringe mit unterschiedlichen Schnittmengen; konzentrische Kreise der Integration, deux vitesses, Kern und Mantel, „Gravitationszentrum“, Avantgarde oder Pioniergruppe. Alle Metaphern laufen auf dasselbe hinaus: Das künftige Europa wird auf jeden Fall differierende Grade der Dichte und Härte aufweisen. Unter dem Schlagwort „verstärkte Zusammenarbeit“ wird sich die Spitzengruppe dabei langsam, doch unaufhaltsam auf einen engeren föderalen Zusammenschluss hinbewegen. Differenzierte Integration gibt es übrigens längst. Schengen und der Euro sind dafür die markantesten Beispiele. Es wird auf anderen Feldern zwangsläufig genau so kommen, zumal auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Entscheidend ist dabei zweierlei: Erstens, dass denen, die willens sind voranzugehen, keine Knüppel zwischen die Beine geworfen werden dürfen von denen, die davor zurückschrecken. Und zweitens: dass jedes Projekt grundsätzlich offen sein muss für alle.
Europa ist schwer zu verstehen und zu durchschauen – selbst für Europäer. Am besten macht man sich vielleicht eine Vorstellung von der Europäischen Union, wenn man sie mit dem Liebesleben der Elefanten vergleicht: Alles geht auf hoher Ebene vor sich; es wird viel Staub aufgewirbelt; und auf die Ergebnisse muss man jahrelang warten.
Ich gebe zu: Manchmal können einem schon Zweifel, ja sogar Verzweiflung überkommen – über die Streitigkeiten, die Skandale, die kleinlichen Unstimmigkeiten, die technokratische Überheblichkeit, die den Nachrichtenstrom aus Brüssel beherrschen. Wer jedoch nicht nur die Schlagzeilen der Morgenpresse in den Blick nimmt, sondern das letzte halbe Jahrhundert insgesamt ins Auge fasst, der erkennt, dass Europa in Wahrheit eine ungeheure Erfolgsgeschichte ist.
Der europäische Elefant ist in den zurückliegenden fünfzig Jahren auf eindrucksvolle Weise gewachsen. Das Baby-Europa der Sechs zählte 186 Millionen Menschen, seine Wirtschaftsleistung belief sich auf 204 Milliarden Euro. In dem Europa der 27 leben 490 Millionen (USA 317, Japan 125). Zusammen erwirtschaften die 490 Millionen rund 20 Prozent des Weltsozialprodukts – mehr als die Vereinigten Staaten. Unser Bruttosozialprodukt (EU 2011: USD 17.578 Billionen) ist größer als das der USA (2011: USD 14.991 Billionen); unsere Industrieproduktion liegt über der Amerikas. Euroland ist die größte Handelsmacht unserer Zeit. Die Europäische Union ist ein Erfolgsmodell für Frieden, Freiheit und Demokratie, für Rechtstaatlichkeit und sozial wie ökologisch flankierten Wohlstand. Ein Exportartikel ist unsere Methode allemal.
Es besteht denn kein Anlass zu verzagtem Europessimismus. Unser alter Kontinent ist nicht am Ende; seine Werte sind nicht ungültig geworden; er braucht sich mit seiner soft power nicht zu verstecken. Es hat auch keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Europa ist längst mehr als ein Supermarkt. Es muss auch keine Supermacht werden oder werden wollen. Es genügt durchaus, dass es sich zu einem Superstaat ganz eigener Art entwickelt, der sein Gewicht – vornehmlich sein wirtschaftliches und ideelles Gewicht – angemessen auf die Waage bringt: kräftig genug, sich zu behaupten; aus leidvoller Erfahrung verträglich; offen für Zusammenarbeit mit allen.
IV. Die Überwindung der Krise
Derzeit durchläuft Europa eine Krise, wohl die schwerste seit den Anfängen der europäischen Integration. Es handelt sich gleichzeitig um eine Staatsschuldenkrise, eine Bankenkrise und eine Konjunkturkrise. Und machen wir uns nichts vor: Es wird Zeit brauchen, die gegenwärtigen Widrigkeiten zu überwinden – fünf, vielleicht zehn Jahre, nicht bloß zwölf Monate. Doch müssen wir sie überwinden, wie wir uns aus allen früheren Krisen herausgearbeitet haben. Ich denke auch, dass wir die Krise überwinden können, wenn wir nach der Devise „Solidarität gegen Solidität“ verfahren und dabei den fußkranken Südeuropäern die Zeit geben, ihre staatlichen und wirtschaftlichen Systeme wieder ins Lot zu bringen.
Solidarität gegen Solidität, dies ist der Grundsatz, nach dem Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Krise handelt. Ihre Haltung hat ihr im Ausland teils Bewunderung, teils scharfe Ablehnung eingetragen. „Die mächtigste Frau der Welt“ nennt sie das amerikanische Forbes Magazine, „Europas gefährlichste Führungspersönlichkeit“ sieht der britische New Statesman in ihr. Der Finanzier und Philanthrop George Soros fordert Angela Merkel auf, kraftvoll voranzugehen, und selbst ein Mann wie der polnische Außenminister Radowslaw Sikorski stimmt in die Forderung nach entschlossenem Handeln der deutschen Regierungschefin ein. In Berlin sagte er im vergangenen November den bemerkenswerten Satz: „Ich fange an, die deutsche Macht weniger zu fürchten als deutsches Nichtstun“. Wir seien, formulierte er auf Englisch, „Europe’s indispensable nation“ – auf uns komme es an. „Führt, aber dominiert nicht“, war Sikorskis Appell an die Deutschen.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2012 antwortete ihm der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments: „Sobald wir führen, hören wir: nicht in diese Richtung, und nicht in diesem Stil“. Dem setzte der deutsche Verteidigungsminister de Maizière offenherzig hinzu: “Wer von uns Führung verlangt, der will meist doch bloß unser Geld.“ Dies stimmt sicherlich in vielen Fällen. Es erklärt wohl auch das taktische Zögern der Bundeskanzlerin während der zurückliegenden Jahre. Was immer ihre persönliche Überzeugung – und ich zweifle nicht an ihrem aufrichtigen Engagement für die weitere Integration Europas –, sie kann in der Euro- und Europapolitik nicht einfach durchregieren. Vielmehr muss sie auf die Ansichten von vier großen B’s Rücksicht nehmen: Bundestag, Bundesverfassungsgericht, Bundesbank und Bild – jawohl, auch die Bild-Zeitung. Diese vier B’s erlauben ihr Solidarität mit Griechen, Portugiesen, Spaniern und Italienern nur unter der Voraussetzung, dass diese Solidität zeigen; das heißt, dass sie sparsam wirtschaften, Budgetdisziplin üben und eine maßvolle Schuldenpolitik betreiben.
Der Oxford-Professor Timothy Garton Ash, ein guter Kenner deutscher und europäischer Politik, sieht in dem Rezept „Solidarität gegen Solidität“ das Bestimmungsmerkmal einer ganz neuen EU-Konstellation – einer Konstellation, die er mit dem Begriff „ein europäisches Deutschland in einem deutschen Europa“ umschreibt. Ich finde das nicht schlecht definiert.
Persönlich bin ich hier allerdings für Generosität – aus zwei Gründen.
Zum einen dürfen wir den Spar-Druck nicht so weit erhöhen, dass Verarmung, ja Verelendung im Süden den Fortbestand der Demokratie gefährdet. Austerity pur wird aber ebendiesen desaströsen Effekt haben, wenn sie nicht gleichzeitig begleitet wird von einem Wachstumsprogramm, das die Menschen neue Hoffnung schöpfen lässt und ihnen eine Perspektive jenseits der Krise eröffnet. Bisher ist davon nichts zu sehen.
Zum zweiten aber ist uns Deutschen selber viel Zeit eingeräumt worden, um unsere Schulden bei den Siegermächten zu begleichen – Reparationsschulden aus dem Versailler Vertrag von 1919 und Schulden für die Wirtschaftshilfe nach 1945. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 erließ uns die Hälfte unserer Verbindlichkeiten von damals rund 30 Milliarden Mark, und für die Rückzahlung des Rests wurde uns fast ein halbes Jahrhundert Frist gewährt. Kaum jemand weiß, dass wir die letzte Tranche unserer Reparationsleistungen aus dem Ersten Weltkrieg erst vor zwei Jahren bezahlt haben, am 3. Oktober 2010. Meiner Meinung nach sollten wir gegenüber der südlichen EU-Peripherie dieselbe Geduld üben und dieselbe Großzügigkeit walten lassen, die wir vor fünfzig Jahren erfahren durften. Europa muss es uns wert sein.
V. Das neue Begründungsnarrativ
Von all den Gründen, die einst Adenauer, de Gasperi und Schumann bewogen, sich an das europäische Einigungswerk zu machen, ist nur einer entfallen: die kommunistische Bedrohung. Dafür sind zwei neue Gründe hinzugekommen. Zum einen die Ungewissheit, wie die Welt von morgen aussehen wird – eine Welt, in der nach dem Wort von Vaclav Havel alles möglich ist und nichts gewiss. Zum anderen die Einsicht, dass die europäischen Nationalstaaten im 21. Jahrhundert zu groß sind, um mit den kleinen Problemen fertig zu werden, aber zu klein, um die großen Probleme der Zeit zu lösen: Arbeitslosigkeit, grenzüberschreitende Kriminalität, Umweltverseuchung, Drogenhandel, internationaler Terror, Massenmigration und Unterentwicklung. Nur wenn sie sich zusammentun, werden die Europäer sich in der globalen Konstellation von morgen behaupten können. Nur dann wird ihr Wort Gewicht in der Welt haben. Nur dann werden sie auf den Weltmärkten konkurrenzfähig bleiben. Allein Europa macht uns alle zukunftsfest. Dies hat schon Jean Monnet gewusst: „Die souveränen Nationen der Vergangenheit sind nicht mehr der Rahmen, in dem sich die Probleme der Gegenwart lösen lassen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es drei Antriebsmomente für die europäische Integration. Das erste war, Frieden zu schaffen in Europa und nach tausend Jahren blutiger Bruderkriege sich über Gräben und Gräber hinweg dauerhaft zu versöhnen; das zweite, die Deutschen anzubinden, einzubinden, festzubinden auch; das dritte, die Sowjets draußen zu halten. Dies war das Narrativ, wie man heute gern sagt, die Gründungs- und Begründungserzählung des europäischen Einigungsprojekts. Doch diese Begründung reicht heute nicht mehr aus. Wir brauchen eine neue Erzählung, um Europas Zusammenhalt zu festigen. Ich sehe das neue Begründungsnarrativ in der Demographie.
Im Jahre 1900 machten die Europäer ein Fünftel der Weltbevölkerung aus, 20 Prozent. Wir haben heute eine Weltbevölkerung von 7 Milliarden. Eine halbe Milliarde davon sind Europäer – das sind noch 11 Prozent der Weltbevölkerung, Mitte des Jahrhunderts werden wir nur noch 7 Prozent der dann 9 Milliarden Menschen zählenden Weltbevölkerung sein, Ende des Jahrhunderts womöglich nur noch 4 Prozent. Keine einzige europäische Nation, auch nicht die deutsche, wird auch nur 1 Prozent der Menschheit darstellen.
Wer sich diese Entwicklungstendenzen vor Augen hält, der kommt nicht umhin, die Einigung Europas entschlossen voranzutreiben. Nur vereint werden wir uns behaupten können; vereinzelt werden wir untergehen. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte recht, als er 1996 sagte: „Europa ist für uns kein Luxus, sondern ein Stück Existenzsicherung für die Zukunft.“ Der Satz besitzt noch heute Gültigkeit. Ebenso wie die Erklärung von Bundeskanzlerin Merkel: „Nur in einem europäischen Verbund können wir unsere Werte [und, hätte sie hinzusetzen können, unsere Interessen] in der Welt einbringen und, wenigstens zum Teil, durchsetzen.“
Diesen europäischen Verbund dürfen wir in der Krise nicht leichtfertig in die Luft sprengen. Er muss sich weiterentwickeln. Bis wir die Vereinigten Staaten von Europa bekommen, wird es noch gute Weile haben – ich schätze eine Generation, vielleicht auch zwei. Die Vereinigten Staaten von Europa sind das Fernziel. Das Nahziel muss das Vereinigte Europa der Staaten sein. Die Staaten der Alten Welt werden ohnehin nicht verschwinden; sie werden die Bausteine auch eines künftigen europäischen Bundesstaates sein. Doch einigen sollten sie sich, und dies lange, ehe sie sich zum Bundesstaat vereinigen.
Die Argumente zugunsten der europäischen Integration sind heute so stark und überzeugend wie eh und je. Dominique Moisi hat sie in einem überzeugungsstarken Satz zusammengefasst: „Die Vorstellung der Vereinigten Staaten von Europa mag vielen lächerlich erscheinen, aber sie ist nicht lächerlicher als die Vorstellung, dass ein zersplittertes Europa im Zeitalter der Globalisierung prosperieren könne.“
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Zu Asien:
Zum ersten Mal war ich 1975 in China. Ich begleitete Helmut Schmidt im Pressetross beim ersten Staatsbesuch eines deutschen Bundeskanzlers, keine zehn Jahre, nachdem einer seiner Vorgänger – Kurt Georg Kiesinger – auf deutschen Marktplätzen seinen Warnruf hatte ertönen lassen: „Ich sage nur China, China, China!“
Damals lebte Mao Tse-tung noch. Die Kulturrevolution, die das Reich der Mitte fast ein Jahrzehnt lang erschüttert hatte, war am Verebben, doch die Viererbande um Maos Frau Jiang Qing hatte immer noch großen Einfluss. Jegliche Entspannungs- und Gleichgewichtspolitik bezeichnete sie als „Vogel-Strauß-Politik“. Mao selber versuchte Schmidt einzureden, die Sowjets würden China eines Tages mit einem Atomkrieg überziehen. Der Vizepremier Deng Xiaoping, nach der Kulturrevolution eben aus dem Schweinekoben befreit, spitzte diese Analyse im Blick auf Deutschland noch zu: „Es muss eines Tages in Europa zum Krieg kommen.“ Es galt die Devise: „Tiefe Tunnel graben, überall Getreidevorräte anlegen, niemals nach Hegemonie trachten.“
Peking war damals noch eine eher ländliche Siebenmillionenstadt. Das typische Bild: Fahrräder wie Heuschreckenschwärme, kaum Autoverkehr; Berge von Chinakohl auf den Gehwegen; die Menschen alle in der blauen oder grauen Einheits-Mao-Kluft; die Offiziere ohne Rangabzeichen, von den Gemeinen nur dadurch zu unterscheiden, dass sie vier Taschen am Uniformrock hatten statt zwei; riesige Propagandaplakate allenthalben. In den Volkskommunen galt noch der Satz: „Lieber sozialistisches Unkraut als kapitalistisches Korn.“
In den vier Jahren nach meinem ersten Besuch war ich jährlich einmal in China. Mit mehreren Chefredakteurskollegen kam ich als Gast von Botschafter Erwin Wickert als einer der ersten Weißen wieder in die Buddha-Höhlen von Dunhuang. Ein andermal besichtigte ich die erst 1974 entdeckten und noch bis zu den Knien im Lehm steckenden Tonsoldaten des Kaisers Tschin Shi Huang-di in Hsian, besuchte das chinesische Atomforschungszentrum im Lantschou, inspizierte die 196. Infanteriedivision bei Tientsin. Zweimal hatte ich dabei das Glück mehrstündiger Gespräche mit Deng Xiaoping – der nach einer neuerlichen Verbannung – 1977 das Ruder übernahm und Ende 1978 die Öffnung zur Welt und die Transformation der Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft in Gang setzte.
Damals habe ich mich erkühnt, ein Buch über das erwachende China zu schreiben, „Die chinesische Karte“. Und darin machte ich, wie viele anderen auch, den ersten Fehler. Ich sah wohl, dass die Entwicklung des Landes eine neue Richtung nahm, aber ich traute meinem Urteil nicht so recht. „Ob die Öffnung zur Welt, das Abenteuer der Modernisierung, der zaghafte Ansatz zur Liberalisierung von Dauer sein werden“, schrieb ich, „oder ob sich, was wie eine historische Wende wirkt, bald wieder als bloße taktische Wendung entpuppt – ich wage es nicht zu sagen“. Zwar schrieb ich auch über die Zukunftsvorstellungen eines chinesischen Journalisten, der von Hochhäusern, Fernsehtürmen, Supermärkten, bunten Kleidern träumte. Ich wünschte dem gewaltigen Modernisierungsprogramm Dengs Glück und Gelingen, aber was die Verwirklichung anging, so blieb ich skeptisch.
Meine Skepsis galt in erster Linie den Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Exportfähigkeit des Landes, schrieb ich, sei begrenzt. Es habe kaum genug Techniker und Facharbeiter, um die ausländische Technologie im gewünschten Umfang zu absorbieren; so werde es wohl ein Exporteur von Seide, Borsten und Nippes bleiben. Auf jeden Fall, resümierte ich, sei es noch weit hin bis zur Verwirklichung der Schreckensvorstellung des Economist, dass ein Volk von einer Milliarde Chinesen bei Zugrundelegung japanischer Propopfeinkommen ein jährliches Bruttosozialprodukt von 10.000 Milliarden Mark erwirtschaftet und davon 4 Prozent exportiert. Ich bekenne: In dieser Hinsicht habe ich mich gründlich getäuscht.
In der Lebensspanne einer einzigen Generation hat sich das chinesische Bruttosozialprodukt beinahe verzweihundertfacht; von $ 45 Milliarden 1978 auf 7.300 Milliarden im Jahre 2011. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich im gleichen Zeitraum versechzigfacht; von 76 auf 4.400 Dollar. Das Außenhandelsvolumen, das sich l980 auf ganze 44 Milliarden Dollar belief und noch 1999 erst 360 Milliarden ausmachte, stieg auf 2.560 Milliarden. Der Exportanteil ist auf 1,900 Milliarden gestiegen; rund 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. China hat Deutschland überflügelt, hat Japan überholt und ist den USA dicht auf den Fersen. Es sitzt auf einem Devisenschatz von $3,200 Milliarden. Die Wirtschaft ist nach dem Übergang von der zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft im Jahresdurchschnitt um 9-11 Prozent gewachsen und wächst krisenbedingt mit verringerter, doch immer noch beeindruckender Geschwindigkeit weiter. Bald wird China seinem Sozialprodukt nach – allerdings noch lange nicht nach dem Prokopfeinkommen – wieder das sein, was es bis 1830/1840 gewesen ist: die größte Volkswirtschaft der Welt.
Der Aufbruch hat China verändert. Rund 300 Millionen der 1,3 Milliarden Chinesen haben sich über die Armutslinie nach oben in den Mittelstand gearbeitet. Das Reich der Mitte zählt heute über 450 Millionen Internetnutzer und 720 Millionen Handy-Besitzer (1991: 48.000). Aus einem der rückständigsten, auf den eigenen Nabel konzentrierten Länder ist die Werkstatt der Welt und der dynamischste Wirtschaftsraum der Erde geworden. Heute ist China einer der größten Rohstoffverbraucher. So kauft es beispielsweise mehr saudisches Erdöl als die Amerikaner. In Lateinamerika, in Afrika und rund um den Pazifik kratzen die Chinesen alles an Rohstoffen zusammen, was sie irgendwie krallen können. Und wie vor dreißig Jahren die Japaner, so kaufen sie rund um den Globus Industrieunternehmen, Kunstwerke, westliche Luxusgüter, französische Weine.
II.
Wie so viele andere auch, habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können, wie durchgreifend, mit welcher Wucht und in welch unerhörtem Tempo China sich zur wirtschaftlichen Weltmacht entwickeln würde. Wenn wir ehrlich sind, dann sind wir ja alle von seinem rasanten Aufstieg überrascht worden. Es hat über 20 Jahre gedauert, bis wir endlich merkten, was da passierte. Der Irrtum mag verzeihlich sein, denn die exponentielle Entwicklung der Volksrepublik wurde in ihrer vollen Wucht schlagartig erst seit dem Jahr 2000 sichtbar.
Lassen sie mich Ihnen diese fulminante Entwicklung an Hand einiger weniger Daten vor Augen führen.
Die erste Folie zeigt das enorme Anwachsen des Bruttoinlandsprodukts im Nuller- Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Die zweite Folie lässt den steilen Anstieg des Handelsvolumens erkennen, zumal das exponentielle Wachstum des chinesischen Ausfuhren.
Die letzte Folie verdeutlicht die dramatische Verbesserung des durchschnittlichen Prokopfeinkommens (das übrigens im Raum Shanghai bei rund $ 10.000 liegt).
Ich lasse dahingestellt, ob die Wachstumskurve in den kommenden Jahrzehnten ähnlich steil verlaufen kann und wird. Das mag durchaus sein. China ist eine wirtschaftliche Supermacht. Doch darf man nicht vergessen: Es ist nach wie vor ein Entwicklungsland. Unweigerlich werden sich die Schattenseiten des gegenwärtigen Zustandes hemmend und bremsend auswirken: die Probleme der überschuldeten Banken und Staatsunternehmen; die Kluft zwischen Stadt und Land, aufs peinlichste sichtbar an der Not von 200 Millionen Wanderarbeitern; die wachsende Ungleichheit von Oben und Unten; die Überalterung der Ein-Kind-Gesellschaft; die Löchrigkeit des sozialen Netzes; die grassierende Korruption; nicht zuletzt die fortdauernde Rechtsunsicherheit der Bürger, die sich immer öfter in Protesten; Demonstrationen, oder gar Aufruhr Luft machen. Vor allzu konkreten Prophezeiungen werde ich mich jedoch wohlweislich hüten.
III.
Eine letzte Erwägung: Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas wird unausweichlich weltpolitische Folgen haben. Eine Machtverschiebung von Ost nach West bahnt sich an. Ein halbes Jahrtausend westlicher Dominanz ist zu Ende. Ein neues Mächtemuster gewinnt Gestalt. China versichert Mal um Mal, das „friedlicher Aufstieg“ sein Anliegen sei. Die Geschichte lehrt freilich, dass aufstrebende Mächte noch immer ihren Platz an der Sonne eingefordert und zugleich auf die eine oder andere Weise versucht haben, den bestehenden Status quo aus den Angeln zu heben. Dies mag sich in unserer Gegenwart durchaus wiederholen.
In meinem China- Buch schrieb ich vor 34 Jahren:
„Ein Poltergeist mag auf die Weltbühne treten oder ein Partisan
der Besonnenheit. China kann ein Spannungserzeuger werden oder
eine Kraft zum Ausgleich. Vielleicht findet es den Stein der Weisen;
ein Modell sinnvoller, dem Menschen angemessener Entwicklung;
vielleicht kopiert es als letzter zur abendländischen Zivilisation
bekehrter Lebenskreis auch nur alle Fehler des Westens und
verdichtet sie zu einer gigantischen Kulturkatastrophe.“
Dreieinhalb Jahrzehnte später möchte ich sagen: The jury is still out. Dies gilt sowohl für die chinesische Klimapolitik als vor allem auch für Pekings Außenpolitik. Dazu einige wenige Erwägungen.
Ich kann mir schwer vorstellen, dass China bloß ein zweites Japan werden wird – ökonomisch ein Riese, weltpolitisch ein Zwerg. In fünftausend Jahren war das Reich der Mitte nie Teil eines internationalen Systems; es war sich selbst stets System genug. Eine im räuberisch-ausgreifenden Sinne expansionistische Macht ist es zu keiner Zeit gewesen. Stets hat es sich damit begnügt, dass die Anrainerstaaten sich mehr oder minder symbolisch seiner Obrigkeit unterwarfen und mit Tributzahlungen Vasallentreue bezeugten (was Koreaner, Himalaya-Fürsten, Laoten, Birmanen und Siamesen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auch taten). Die Frage ist: Entwickelt es jetzt ein Konzept, das über die Bewahrung der Reichseinheit und die Verteidigung seines territorialen Besitzstandes in Tibet, Sinkiang und der Inneren Mongolei hinausgeht? Wird es nach der Heimführung Hongkongs und Macaos irgendwann das abtrünnige Taiwan notfalls gewaltsam heim ins Reich holen? Strebt es die Rolle eines Regionalhegemonen an? Wird es auftrumpfend Asien sein Gepräge oktroieren? Oder wird es sich als anerkannte Großmacht, seiner Ebenbürtigkeit gewiss, in Mäßigung und Verträglichkeit üben?
Die Fragen müssen vorläufig offen bleiben. Dabei macht mir die Taiwan-Frage die geringsten Sorgen. In Bezug darauf war ich immer überzeugt, dass sie trotz allem gelegentlichen Säbelrasseln und Raketenfuchteln über kurz oder lang eine sehr chinesische Lösung finden wird, und zwar eine friedliche Lösung. Vor 33 Jahren lehnte ich mich mit dieser Prognose sehr weit aus dem Fenster:
„Allmählich werden die beiden chinesischen Republiken Fühlung
suchen. Nach und nach werden sie Kontakte schließen, die sie bisher
verabscheut haben. National-Chinesisches, Chinesisch-Nationales
wird da wieder zum Durchbruch kommen, das lange verschüttet
lag im Graben der Ideologien.“
Genau so ist es gekommen. Inselchina und Festlandchina sind sich näher gerückt, weil Festlandchina sich – um es grob zu formulieren, – auf das kapitalistische Wirtschaftsmodell Taiwans eingelassen hat. Je mehr der Rotstich verblaßte, desto schmaler und flacher ist der ideologische Graben geworden.
Es gibt längst viele direkte Kontakte. Taiwan ist mit geschätzten $200 Milliarden einer der großen Investoren auf dem Festland, der für 20 Millionen Arbeitsplätze sorgt. Der Warenaustausch – 1978 ganze $46 Millionen – hat rund 60 Milliarden Dollar erreicht. (Zum Vergleich:Der Handelsaustausch zwischen China und Deutschland bezifferte sich 2011 auf €144 Milliarden und soll bis 2015 auf €213/ $280 Milliarden steigen.) An die fünfhunderttausend Taiwanesen sind allein rund um Schanghai als Geschäftsleute oder Fachexperten tätig. Es gibt wieder direkte Flug- und Fährverbindungen; vier Millionen Taiwanesen besuchen jedes Jahr das Festland. Die Wiedervereinigung vollzieht sich gleichsam an den Graswurzeln. Womöglich bedarf sie noch lange keiner formellen Besiegelung wie im Falle Hongkongs oder Macaos– warten wir ab.
Was die allgemeine Außen-und Sicherheitspolitik angeht, so verspricht Beijing Friedfertigkeit, rüstet jedoch massiv auf und steigert sein Militärbudget jedes Jahr um 15 bis 18 Prozent. Für den en Verteidigungsetat 2010 machen das IISS, SIPRI und Rand unterschiedliche Angaben, die von 80 bis 110 Milliarden Dollar reichen; das ist beträchtlich mehr als vor zehn Jahren, aber immer noch kaum ein Sechstel des Pentagon-Budgets. Allerdings zielt die Rüstungsbeschaffung unverkennbar auf die Stärkung der für Machtprojektion tauglichen militärischen Instrumente. China rüstet seine Kriegsmarine auf. besonders mit Flugzeugträgern und U-Booten, und schafft sich Stützpunkte entlang der wichtigsten Seewege, vor allem in der Nähe der beiden strategischen Flaschenhälse, der Straße von Hormuz, durch die 40 Prozent des auf Tankern transportiertes Erdöl geht, und der Strasse von Malacca, die 50 Prozent aller Handelsschiffe passieren müssen.
Die Chinesen verfolgen dabei eine „Perlenkettenstrategie“, So bauen sie im Westen im pakistanischen Gwadar einen großen Tiefsee- Hafen und elektronischen Horchposten, von dem aus sie die Straße von Hormuz überwachen können; in Hambantota an der Südküste Sri Lankas eine Ölbunkerstation; in Bangladeshs Hafenstadt Chittagong einen Containerport, der sich auch militärisch nutzen ließe; in Burma Handelshäfen und Marinestützpunkte; schließlich Anlagen zur Überwachung des Seeverkehrs auf den Kokosinseln. Pekings strategische Planer erwägen sogar den Bau eines Kanals durch Thailand, der die Passage durch die gefährliche Straße von Malacca überflüssig machen würde
Sichtbar ist auch heute schon, dass China die ehemaligen Tributarstaaten immer stärker wirtschaftlich durchdringt, nicht durchweg zur Freude seiner kleinen Nachbarn übrigens, denen es mit seinem aggressivem Vorgehen zur Durchsetzung seiner Territorialansprüche im Südchinesischen Meer kräftig auf die Nerven geht. Mit dem verqueren Erfolg, dass sich diese Länder – von Vietnam bis Japan –, obwohl ihre wirtschaftliche Verflechtung mit der Volksrepublik immer enger wird, sich gleichzeitig wieder unter den Sicherheitsschirm der Vereinigten Staaten drängen – eigentlich nicht das, was Beijing anstrebt.
Unverkennbar ist es ja der Wille der chinesischen Führung, sich nicht von den Vereinigten Staaten dauerhaft in den zweiten Rang verweisen zu lassen Dies wird Washington vor die Entscheidung stellen, ob es dem Aufstieg Chinas als strategischem Konkurrenten konfrontativ entgegentreten soll oder ob es das Reich der Mitte lieber durch kooperative Einbindung eindämmt. Mir scheint, dass sich Obama mit seinem pivot to Asia bereits entschieden hat: nämlich Chinas in seine Schranken zu weisen und die eigne Dominanz im Pazifik nicht unterminieren zu lassen. Sollte Mitt Romney Präsident werden, müssten wir wohl damit rechnen, dass er einen klaren Konfrontationskurs fahren wird. Aus europäischer Sicht wäre eine kraftvolle Mischung klüglicher machtpolitischer Eindämmung und zugleich zielbewussten Engagements wohl die angemessenere Strategie – nach dem Motto embrace and hedge, umarmen und einhegen. China ist zu groß, als dass es sich herumschubsen ließe, und die Chinesen sind zu schlau, um sich bezirzen zu lassen. Sie sind Konkurrenten, aber Feinde sind sie nicht; und wir sollten sie nicht dazu aufbauen. Gehen wir mit ihnen um, wie wir mit anderen schwierigen Konkurrenten, anderen sperrigenPartnern umgehen: ohne Obsessionen und ohne Illusionen.
Ich komme zum Schluss – mit einer Geschichte aus dem Sachsenwald. Dort besuchte der greise chinesische Vizekönig Li Hung-tschang im Juni 1896 den Fürsten Bismarck. „Wie sollen wir es machen, um China zu reformieren?“, fragte der Chinese. Bismarck entgegnete: „Die Hauptsache ist: Wenn in der obersten Leitung Raketensatz ist, dann geht vieles; wenn er fehlt, geht nichts.“
Im Herbst wird in China eine ganz neue „oberste Leitung“ gewählt. Drücken wir den Daumen, dass sie nicht nur „Raketensatz hat, sondern auch in die Richtige Richtung zielt: in Richtung Kooperation. Verträglichkeit und Versöhnlichkeit.
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Korea Today: Problems and Prospects, Oktober 2014
1. When I first visited the Republic of Korea in the sixties, Seoul had a population of 2,5 million, most of them living in shacks and sheds on the hills; the GNP was $ 2,4 billion, per capita income a meagre $ 87; ox carts, bicycles, rickshaws dominated in the streets; the central issue was Saemaul, the New Village movement to lift the farming regions out of the stone age; and South Korea was ruled by military dictators.
Today Seoul is a modern city with stunning high-rise quarters; nose-to-tail motor traffic creates bad jams; GNP has risen to $1305 billion, per capita income to $ 22.500. South Korea’s economy has be come the world’s fifteenth-largest, and since 1987, when the generals cleared out of the commanding heights, the country has been a democracy. It’s been an amazing and admirable development.
2. The 38th parallel is the last remaining front of the Cold War. Six decades after the end of the Korean war, more than a million soldiers confront each other across the Demilitarized Zone (DMZ). Throughout history, there have been two ways of concluding bloody conflicts: by concluding a peace treaty or by giving the forces of normalization and societal evolution a chance to erode the sharp edges of hostility. In the case of divided Korea, neither has happened. The regime in Pyongyang is even more inscrutable and incalculable under Kim Jong-un than it was under his father and grandfather. And while, as the French writer Paul Valéry put it, the worst is never certain, the Korean peninsula remains the most dangerous flashpoint in Asia.
3. In the second half of the 20th century Germans and Koreans shared a bitter experience: Their nations were tragically partitioned along geographic, geostrategic and ideological lines. Germany was luckier than Korea: along with the Iron Curtain, the Berlin Wall came down in 1989. The reunification of Germany was the product of a windfall of history. The Germans did not make unity happen; it happened to them. It was not the upshot of an operative West German policy but rather the outcome of several fortuitous factors: Gorbachev’s “new thinking” in Russia, growing unrest in eastern Europe, most of all the resolute impatience of the East Germans, whose assertion of the democratic spirit against a dictatorial regime quickly morphed into a popular uprising against national division.
On the Korean, peninsula 248 kilometers of barbed wire, trenches and border fortifications still divide the country.
4. No two situations are ever alike in the course of human events. History, as Henry Kissinger once remarked, teaches by analogy, not by identity. Still, the principles and procedures of German Ostpolitik – from tension via detente to reunification - are perhaps of more than passing interest to Koreans.
Lesson No. 1: Don’t shun or ban contacts. Ensure your military security, but bank on the infectious power of free thought.
Lesson No. 2: To overcome the status quo, you first have to recognize it.
Lesson No. 3: Start by agreeing not to employ military force. No more wars, no more bloodshed – this mutual promise must stand at the beginning of détente. After that, debrutalize the border. Then, aim for mutual and balanced force reductions.
Lesson No. 4: Don’t limit détente to state-to-state relations. Normalization must benefit the masses of the people through travel, trade and untrammeled communications.
Lesson No. 5: National rapprochement must be embedded in a suitable international framework to accommodate the interests of the neighbors. In Germany this meant NATO, the Conference on Security and Cooperation in Europe (CSCE), ultimately the 2-plus-4 agreement signed by the two Germanies, the United States, the Soviet Union, France and Great Britain. An Asian Security Conference might be helpful, while a 2-plus-4 framework for Korea could be provided by the United States, China, Russia and Japan.
Lesson No. 6: Gear yourself for the long haul. Reunification is unlikely to be the result of a single act; more likely it will be the outcome of a protracted process. Don’t eschew small steps – but be prepared for a quantum jump, too. The unexpected may happen literally over night – as it did in Germany. When God’s mantle rustles through history, leaders must – following Bismarck’s counsel – jump forward and catch it by the seam. And don’t be surprised when you discover that none of the plans you have assiduously prepared is of any relevance when the moment comes.
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130 Jahre Beziehungen Deutschland-Korea
Persönliche Einblicke in das Land der Morgenstille, Juni 2013
Es ist 41 Jahre her, dass ich zum ersten Mal vom nördlichsten Posten der südkoreanischen 1. Infanteriedivision bei Panmunjom den Blick über das grüne Tal des Sanchon-Flusses nach Norden schweifen ließ. Im Dunst der fernen Hügel, jenseits der vier Kilometer breiten entmilitarisierten Zone, war Kaesong zu sehen. Durch den Fernstecher konnte ich auch deutlich die Lautsprecher-Batterie erkennen, die diesen Frontabschnitt am 38. Breitengrad rund um die Uhr mit ohrenbetäubenden Lesungen aus den einschläfernden Schriften des Marschalls Kim Il-sung volldröhnten. Die Männer der 1. Infanteriedivision übertönten den Zitatenlärm mit nicht minder geräuschvoller Schlagermusik, was der Szene einen Stich ins Fröhliche, ja ins Frivole gab. Doch die Laufgräben, die Unterstände und die Geschützstellungen, die drüben wie hüben auszumachen waren, ließen keinen Zweifel aufkommen: Hier standen sich an der kältesten Front des Kalten Krieges zwei Armeen gefechtsbereit gegenüber.
Es war dies die einzige Front, an der in den vier Jahrzehnten des Ost-West-Konfliktes der Kalte Krieg je in einen heißen Schießkrieg umschlug. Nach dem Überfall Nordkoreas auf den Süden im Juni 1950 verwüstete er drei Jahre lang die Halbinsel. Vier Millionen Menschen kamen ums Leben, zerschossen und zerbombt waren die Städte, verbrannt die Dörfer, verheert die Fluren. Als die Waffen 1953 endlich schwiegen, war Südkorea zerstört, bitter arm, von Flüchtlingen aus dem Norden überschwemmt – einer der ärmsten Staaten der Welt, in dem das Prokopfeinkommen noch 1962 bei mageren 87 Dollar lag. Es war eine Militärdiktatur, von Demokratie weit entfernt.
Wer sich diese Vorgeschichte vor Augen hält, der kann nur mit Staunen und Bewunderung registrieren, wie sehr sich die Lage im den sechzig Jahren gewandelt hat, die seit dem Waffenstillstand vergangen sind. Die Bretterschuppen und Blechhütten auf den Bergen rund um Seoul sind längst abgerissen worden und haben ansehnlichen, hochmodernen Wohnblocks Platz gemacht. Aus der armseligen Drei-Millionenstadt ist eine moderne Hauptstadt von über zehn Millionen Menschen geworden; von 13 Millionen, wenn man die Satellitenstädte mit einbezieht.
Als ich das erste Mal dort war, beherrschten noch Ochsenkarren, Fahrräder, Rikschas, allenfalls Motorroller die Straßen; heute wälzen sich Autoblechlawinen durch die Städte wie überall sonst in der modernen Welt. In den 1970ern waren alle Energien auf die Saemaul-Bewegung konzentriert, die Bewegung „Neue Dörfer“. Sie sollte mit Nachdruck der Landwirtschaft aufhelfen, die Anbaumethoden verbessern, die Dörfer verschönern und sie an die Stromnetze anschließen. Damals wurden mir auf dem Land stolz die Bemühungen vorgeführt, die Bauern in die neue Zeit zu stoßen – durch die Einrichtung kleiner Werkstätten, die Einführung von Traktoren oder die Züchtung von Seidenraupen, Pilzen oder Muscheln.
Heute werden dem Besucher längst nicht mehr die Dörfer gezeigt, vielmehr werden ihm die Werften in Busan vorgeführt, die Automobilwerke in und die Elektronik-Fertigungsstätten des Landes. Die industrielle Entwicklung Vorrang. Südkorea ist die Nummer 15 unter den Volkswirtschaften der Welt geworden und der siebtgrößte Exporteur. Es ist heute der zweitgrößte Schiffsbauer, der fünftgrößte Autohersteller, der sechstgrößte Stahlkocher. Seine Elektronik, seine Mobiltelefone, Laptops und Tablets, seine Halbleiter und LCD-Displays haben die Weltmärkte erobert.
Jedes Mal, wenn ich in Korea war, haben mir meine koreanischen Freunde beglückt und zukunftsgewiss den rasanten Aufstieg des Landes geschildert. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit 1962 von 2,4 Milliarden Dollar auf 1,200 Milliarden gestiegen, das Prokopfeinkommen von 87 auf 22.489 Dollar, das Exportvolumen auf 550 Milliarden Dollar (Deutschland: $1.500 Milliarden). Das Land verfügt heute über Devisenreserven in Höhe von rund 320 Milliarden Dollar. Das Wirtschaftswachstum lag 2010 bei 6,1 Prozent und belief sich im vergangenen Jahr trotz der Krise noch auf gute 3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag zu Jahresbeginn bei 2,9 Prozent, die Inflationsrate bei 2,2 Prozent. Wie anderswo auch, hat die Krise zwar allen statistischen Aufwärtskurven Knicks und Dellen beschert. Gleichwohl bleibt der Zukunftsoptimismus der Koreaner ungebrochen.
Und nicht nur wirtschaftlich hat Südkorea ja einen phänomenalen Aufstieg geschafft. Auch politisch hat es sich glanzvoll entwickelt. Die alte These, dass ab 6.000 oder 8.000 Dollar Prokopfeinkommen der Übergang von der Diktatur zur Demokratie fällig werde, hat sich dort wenigstens als realistisch erwiesen (übrigens ja auch in Taiwan; ob sich dieselbe Metamorphose auch in China vollziehen wird, ist freilich mehr als ungewiss). 1987 haben die koreanischen Generäle die Kommandohöhen des Staates geräumt und den Demokraten Platz gemacht. Südkorea ist heute eines der freiheitlichsten Länder der Erde. All dies verdient unseren höchsten Respekt.
II.
In diesem Jahr erinnern wir uns daran, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Korea vor 130 Jahren aufgenommen wurden. Die inoffiziellen Beziehungen reichen freilich zwanzig Jahre weiter zurück in die Anfangszeit der Öffnung des „Landes der Morgenröte“. Namen wie Paul Georg von Moellendorff und Richard Wunsch stehen für die Kontakte in dieser frühen Phase. Moellendorff, zuvor deutscher Generalkonsul in Tientsin, diente der koreanischen Regierung fast drei Jahre lang, von 1882 bis 1885, als außenpolitischer Berater im Range eines Vizeaußenministers. Dr. Wunsch war der Leibarzt des Königs. Am 26. November 1883 wurde dann der erste Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Korea geschlossen, und im Jahre darauf wurde das deutsche Konsulat in Seoul eröffnet. Deutsche Missionare wurden im Lande tätig; Prinz Heinrich kam auf Staatsbesuch; eine kaiserlich-deutsche Sprachenschule wurde eingerichtet; Hermann Mayer gründete das erste deutsche Handelshaus in Korea.
Aber dann zerschnitt die große Politik mit einem Mal die Fäden; die sich so viel versprechend angesponnen hatten. Korea wurde 1905 von den Soldaten des Tenno-Reichs besetzt und 1910 annektiert. Vierzig Jahre lang stand es unter japanischer Kolonialherrschaft. Kaum war es nach 1945 befreit, wurde es gleich in den Anfangsjahren des Kalten Krieges geteilt. Und die Teilung blieb nicht friedlich; sie mündete in einen blutigen Bruderkrieg und hinterließ bei den verfeindeten Brüdern einen lodernden Hass aufeinander. Wie der Kalte Krieg in Nordostasien viel kälter war als in Europa, so war auch die Spaltung der koreanischen Nation entlang des 38. Breitengrades weit brutaler als je die Teilung Deutschlands entlang des Eisernen Vorhangs. Ein tiefes Misstrauen hat bis heute Entspannung, Annäherung und Ausgleich vereitelt.
In der Bundesrepublik hatte sich früh ein demokratisches Gemeinwesen fest eingewurzelt. Der Krieg, der die koreanische Halbinsel verheerte, wurde bei uns zum Humusboden, in dem sich während des Koreabooms das „deutsche Wirtschaftswunder“ entfalten konnte. Das Wunder am Rhein ging dem Wunder am Han um drei Jahrzehnte voraus. Achttausend koreanische Bergarbeiter und 10.000 koreanische Krankenschwestern, die nach 1963 in die Bundesrepublik kamen (und von denen die Hälfte bei uns blieb), hatten daran übrigens einen beachtenswerten Anteil. Aber auch Deutschland war geteilt. Das Schicksal der Teilung verband die Bundesrepublik und die Republik Korea in besonderem Maße. Es gab den diplomatischen Beziehungen, die Seoul und Bonn 1955 aufnahmen, von Anfang an ihr ganz eigenes Gepräge.
III.
Ich vermag nicht zu sagen, wie oft ich seit meinem ersten Besuch in Korea gewesen bin; bestimmt zwei oder zweieinhalb Dutzend Mal. Ich habe das Land aus den verschiedensten Perspektiven kennengelernt: als Journalist, als Mitglied des International Advisory Council der Federation of Korean Industries und Beiratsmitglied von Samsung, als Mitgründer und langjähriger Vorsitzender des Deutsch-Koreanischen Forums, immer wieder auch als Vortragsredner und Podiumsdiskutant. Bei fast jeder dieser Gelegenheiten standen die Themen Teilung und Wiedervereinigung im Mittelpunkt der Gespräche.
Das war schon 1972 so. Willy Brandts Entspannungspolitik, die damals gerade in einer Reihe von Ostverträgen mit Polen, der DDR und der Sowjetunion ihren ersten positiven Niederschlag gefunden hatte, ließ in Korea die Hoffnung aufkeimen, dass auch dort Tauwetter seinen Einzug halten könnte. Über das Rote Kreuz in Nord und Süd wurden die ersten Geheimkontakte angebahnt. Im Juli 1972 vereinbarten Pjöngjang und Seoul drei „Prinzipien für die Vereinigung des Vaterlandes“: unabhängige gesamtkoreanische Anstrengungen ohne äußere Einmischung; Verzicht auf Gewaltanwendung; Einheit der Nation ungeachtet aller Unterschiede der Ideologien und Systeme. Doch versandeten die Gespräche bald in prozeduraler Ödnis und lähmender Unversöhnlichkeit – genau so wie ungezählte spätere Initiativen. Anders als seinerzeit in Deutschland hat sich die Hoffnung auf Lockerung, auf ein geregeltes Miteinander, auf fortschreitende Normalisierung bis heute nicht erfüllt.
Gewiss blieb den Ostdeutschen bis 1989 die große Freiheit verwehrt, aber die von Willy Brandt und Egon Bahr zu Beginn der siebziger Jahre eingeleitete Politik der kleinen Schritte brachte ihnen doch nach und nach viele kleine Freiheiten: Besuchserlaubnis, erst nur für Rentner, dann für einen immer größeren Personenkreis, die Möglichkeit, in Intershops westliche Waren zu kaufen, das Recht vor allem, westdeutsches Fernsehen zu empfangen. Ohnehin gab es immer Postverbindung, sehr früh auch schon Telefonverbindung. Ein dichtes Geflecht von Verträgen regelte die deutsch-deutsche Koexistenz. Der innerdeutsche Handel erreichte am Ende ein Volumen von 15 Milliarden Mark. Besuchsreisen führten zum Beispiel 1987 sechs Millionen Westdeutsche in die DDR und fünf Millionen DDR-Bürger nach Westdeutschland. Das Grenzregime war nach westlichen Maßstäben unmenschlich, wirkte aber mild im Vergleich mit der spannungsgeladenen Konfrontation am 38. Breitengrad.
Vergleichbare Kontakte haben sich in Korea bis heute nicht entwickelt: weder Postbeziehungen noch ein umfänglicher Handel noch ein nennenswerter Besucheraustausch. Es gab und gibt keinen kleinen Grenzverkehr, auch keine Passierscheine zu Neujahr oder zum Erntemond. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, im Norden die Fernsehprogramme des südlichen Landesteils zu empfangen. Nordkorea verharrte in trotziger Selbstisolierung und verlegte sich immer wieder auf verbrecherische Methoden, um das Regime in Seoul zu unterminieren. Es versuchte, den Süden durch Guerillas sturmreif schießen zu lassen. Es beorderte 1968 ein Mordkommando in den Park des Blauen Hauses. brachte 1974 die Frau des Präsidenten Park um, die Mutter der neuen Präsidentin Park Guen-hye; Es jagte 1983 in Rangun das halbe südkoreanische Kabinett in die Luft. Es sprengte 1987 ein Passagierflugzeug der Korean Airlines. Immer wieder drangen nordkoreanische U-Boote in südkoreanische Gewässer ein; im März 2010 torpedierten und versenkten sie den südkoreanischen Zerstörer „Cheonan“, wobei 46 Besatzungsmitglieder ums Leben kamen. Und erst vor zweieinhalb Jahren nahmen die Nordkoreaner die Insel Yeonpong unter schweren Artilleriebeschuss; wiederum gab es Tote.
Der Süden praktizierte lange Jahre seine eigene Art von Selbstisolierung oder Gegenisolierung. Er verbot Kontakte, beschwor ständig dramatisierend die Gefahr einer neuerlichen Angriffs aus dem Norden und verließ sich lieber auf seine militärische Macht, um den Status quo zu bewahren, als auf die Kraft des freien Denkens, um ihn zu verändern. Der nördlichen Spielart von Diktatur setzte es jahrzehntelang seine hausgemachte, südliche Diktatur entgegen. Allerdings hat schon Park Chung-hee, der Vater der gegenwärtigen Präsidentin, einen gegenseitigen Gewaltverzicht und ein normaleres Nebeneinander der beiden koreanischen Staaten angestrebt.
IV.
An Nordkoreas sturer Unversöhnlichkeit sind bisher alle Ansätze zur Entspannung gescheitert. Auch der entschlossenste und bisher überzeugendste Ansatz des Südens, die „Sonnenscheinpolitik“ des Präsidenten Kim Dae-jung, scheiterte an der starrhalsigen Unnachgiebigkeit des kommunistischen Nordens. Stets wechselten Tauwetter und neue Frostperioden einander ab.
Im Jahr 1991 unterzeichneten die Ministerpräsidenten einen Versöhnungsvertrag, doch es folgte nichts daraus. Im folgenden Jahr trat ein Abkommen in Kraft, das die koreanische Halbinsel zur atomwaffenfreien Zone erklärte. Es wurde bald hinfällig. 1994 spitzte sich der Streit über das nordkoreanische Atomprogramm gefährlich zu; der US-Präsident Clinton war drauf und dran, einen Nuklearschlag auf die nordkoreanischen Atomforschungsstätten anzuordnen. Die Krise wurde durch einen Kompromiss entschärft; danach stellte Nordkorea sein Atomprogramm ein, dafür sollte es westliche Leichtwasserreaktoren und Schweröl-Lieferungen erhalten. Doch wichen die USA unter George W. Bush von Clintons Kompromiss-Kurs ab. Nordkorea wurde als „Schurkenstaat“ in die „axis of evil“ eingereiht. Es kam erneut zum Bruch. Kim Il-sung setzte sein Atomprogramm wieder in Gang; kündigte den Nichtverbreitungsvertrag und wies die IAEA-Inspektoren aus dem Land. 2006 meldete es seinen ersten erfolgreichen Atomtest. 2009 kündigte es die danach eingeleiteten Sechsergespräche über die Einstellung des nordkoreanischen Atomprogramms, die Normalisierung der auswärtigen Beziehungen und über die Entspannung auf der koreanischen Halbinsel verhandelten. Die Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea, USA, China, Russland und Japan sind weiterhin unterbrochen.
Zwischen den Koreanern liefen die Dinge nicht besser. 1997 nehmen Seoul und Pjöngjang Friedensverhandlungen auf; schon im Mai 1998 wurden sie wieder ergebnislos abgebrochen. Wohl trafen sich danach die Staatschefs Kim Dae-jung und Kim Il-sung im Jahre 2000 in Pjöngjang. Eine gemeinsame Süd-Nord-Erklärung hielt die Milderung der Teilung, das Streben nach beiderseitigem Wohlstand durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Wunsch nach friedlicher Wiedervereinigung als übereinstimmende Ziele beider koreanischer Staaten fest. In der Praxis ist daraus allerdings nicht viel geworden. Bald schon kam es zu Auseinandersetzungen über die Seegrenze und zu ersten Gefechten zwischen den beiden Kriegsmarinen und zur Drohung Nordkoreas, auch wegen der jährlichen südkoreanischen Militärmanöver das Waffenstillstandsabkommen zu kündigen. Eine vorübergehende Beunruhigung kulminierte 2007 in einem zweiten Gipfeltreffen. Abermals gab es ein großspuriges Kommuniqué voller bester Absichten, doch wiederum war es das Papier nicht wert, auf dem sie standen.
Seit der großen Überschwemmung Mitte der Neunzigerjahre, in der eine Million Nordkoreaner ums Leben kamen, hat der Süden immer wieder dem hungernden Norden Lebensmittelhilfe geleistet; von Dankbarkeit hat er nie etwas gespürt. Der innerkoreanische Handel hat sich zwar in den zurückliegenden zwölf Jahren verzwanzigfacht, überstieg bisher aber nur ein einziges Mal ein Volumen von 1 Milliarde Dollar. Die Reislieferungen des Südens für den Norden sind eine Geisel politischer Widrigkeiten geblieben.
V.
Wohl hat es immer wieder zaghafte Fortschritte gegeben, die zeitweise die Hoffnung weckten, es könne auch in Korea zusammenwachsen, was zusammengehört. Nach 1985 gab es einige wenige Male einen Besucheraustausch. Von Familienzusammenführung – seit 1971 auf der Tagesordnung! – konnte allerdings keine Rede sein: Bei den Begegnungen, so aufwühlend sie emotional auch waren, durften sich jeweils nur hundert Personen von jeder Seite streng bewacht in abgeschotteten Hotels treffen.
Den beiden Großprojekten, die zu einer engeren Verzahnung von Nord und Süd beitragen sollten, war kein günstigeres Schicksal beschieden: dem Ausflugszentrum Kumgang und dem Industriepark Kaesong.
Kumgang, der Diamantenberg 50 Kilometer nördlich der Demarkationslinie, ist den Koreanern von alters her eine heilige Stätte gewesen. 1998 wurde vereinbart, südkoreanischen Besuchern ein mehrere Quadratkilometer großes Gebiet für Tagesausflüge zu öffnen. Zunächst kamen sie mit Fähren, später in Bussen auf einer quer durch die entmilitarisierte Zone neu gebaute Autobahn. Schon bald kamen jedes Jahr eine Viertelmillion Besucher. Doch 2008 wurde dem Touristenprojekt Kumgang abrupt der Todesstoß versetzt. Das ist wörtlich zu nehmen: Eine Südkoreanerin, die sich zu einem harmlosen Strandspaziergang von ihrer Gruppe getrennt hatte, wurde von den Wachleuten hinterrücks brutal erschossen. Seitdem ruht der Besucherverkehr.
Dem Industriepark Kaesong erging es nicht besser. Im Jahre 2003 vereinbarten Seoul und Pjöngjang, wenige Kilometer nördlich der Waffenstillstandslinie eine Sonderwirtschaftszone einzurichten, in der südkoreanische Firmen mit nordkoreanischen Billiglöhnern Textilien, Haushaltsgeräte und Autoteile herstellen sollten. Ursprünglich war vorgesehen, bis zum Jahre 2012 dort 250 Unternehmen anzusiedeln, 700.000 Arbeiter beschäftigen würden. So weit ist es nicht gekommen. Immerhin hatten sich zuletzt 123 südkoreanische Unternehmen in der Sonderzone niedergelassen. Sie beschäftigten 54.000 nordkoreanische Arbeiter und produzierten jährlich Waren im Wert von 470 Millionen Dollar – was dem devisenhungrigen nordkoreanischen Staat jährlich immerhin Einnahmen von 100 Millionen Dollar einbrachte.
Im vorigen Dezember trat der feiste Jungdiktator Kim Jong-un in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters. In seiner Neujahrsansprache beschwor er rituell die Entspannung zwischen Süd und Nord, was vielen Hoffnung machte. Doch auch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt; im Gegenteil. Im April wurden erst die südkoreanischen Techniker an der Einreise gehindert, dann die nordkoreanischen Billiglöhner abgezogen und die Arbeiten komplett eingestellt. Was eine Klammer zwischen Nord und Süd hatte werden sollen, ist zum Erpressungsinstrument geworden. Wie in den beiden Atomtests vom Dezember 2012 und vom Februar 2013 manifestierte sich in der Schließung des gemeinsamen Industrieparks Kim Jong-uns brachialer Wille zur Konfrontation.
Dennoch ist die neue Präsidentin Park Geun-hye entschlossen, den innerkoreanischen Dialog nicht abreißen zu lassen.
VI.
Nordkorea, dessen Führer heute mit Krieg droht, habe ich vor zehn Jahren zum ersten und bisher einzigen Mal einmal besucht. Es war nicht einfach, ein Visum zu bekommen. Als Journalist war ich von vornherein verdächtig, erst recht als früher Leiter des Planungsstabes unter dem Verteidigungsminister Helmut Schmidt. Doch war ich damals Vorstandsmitglied der Deutschen Welthungerhilfe, die seit der Überschwemmungskatastrophe von 1995 in Nordkorea unschätzbare humanitäre Hilfe geleistet hat und in rund einem Dutzend Projekten bis heute leistet. Am Ende bekam ich mein Visum. Der Besuch in Nordkorea wurde zu einer ernüchternden, besser: zu einer verstörenden Erfahrung.
Ein tristeres Land habe ich nie besucht. Öde Plätze, armselig bestückte Läden. Der Autoverkehr ein bloßes Rinnsal, selbst Fahrräder eine Seltenheit. Überall großflächige Propaganda-Plakate, gigantische Bronzestatuen des „geliebten Führers“, Transparente und Steintafeln mit seinen Weisungen, Fotowände mit den Konterfeis der Kims. Die Menschen ein Schatten ihrer Selbst, darbend, frierend, leidend unter den ewigen Stromsperren, ständig auf Achse, um das Notwendigste zu beschaffen, zu tauschen oder auf dürftigen Bauernmärkten zu ergattern. In der Hauptstadt Pjöngjang fuhren die alten Leipziger Straßenbahnen. Die wenigen Eisenbahnen waren überfüllt, oft saßen die Leute im Eiswind auf den Waggondächern. Doch die meisten Menschen gingen zu Fuß. Im Gänsemarsch zogen sie endlose Strecken über die Autobahnen, die Landstraßen und die zugefrorenen Flüsse. Aus den meisten Fabrikschornsteinen quoll kein Rauch.
Morgens um fünf schon brach ein höllischer Lärm los: martialische Aufpeitschmusik. Um sieben Uhr ertönten die Luftschutzsirenen, um Viertel vor acht brüllte ein Lautsprecherwagen 15 Minuten lang Parolen hinaus. Als Delegationsleiter stand mir in den Provinzhotels jeweils die Präsidentensuite zu. Aber auch dort gab es nur eine Badewanne voll bräunlichen, kalten Wassers, womit man die Toilettenspülung zu bedienen hatte. Frühmorgens gab es wenigstens zum Zähneputzen einen Krug heißen Wassers. Fürs Frühstück zogen wir uns in den eiskalten Räumen alles an, was wir an Wärmendem dabeihatten: Pullis, Mäntel, Schals, Mützen. Schluss fehlt...
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